Wie Change.org unsere E-Mails verkauft

Die italienische Zeitung „Espresso“ hat die Preisliste der Firma Change.org (Preise zwischen 1,50 € und 85 Cent) erhalten und bei einigen Kunden nachgefragt. Change.org bewegt extrem sensible Daten, vor allem politische Überzeugungen, und ist in Deutschland Thema einer Debatte über den Schutz der Privatsphäre geworden.

Wie Change.org unsere E-Mails verkauft

Artikel zuerst erschienen am 18. Juli 2016 im italienischen „Espresso“: Così Change.org vende le nostre email von Stefania Maurizi

Der „Espresso“ hat die Preisliste der Firma Change.org (Preise zwischen 0,85 € und 1,50 €) erhalten und bei einigen Kunden nachgefragt. Unsere Recherche zum Geschäft des „Amazon der Online-Petitionen“ ergab verlegene Antworten und seltene Zugeständnisse. Change.org bewegt extrem sensible Daten, vor allem politische Überzeugungen, und ist in Deutschland Thema einer Debatte über den Schutz der Privatsphäre geworden.

Sie wurde als „Google der modernen Politik bezeichnet“: Change.org, die populäre Plattform für die Veröffentlichung von Petitionen zu politisch-sozialen Themen, ist ein Riese mit 150 Millionen Nutzern weltweit, wöchentlich werden es eine Million mehr. Ein Ereignis wie der Brexit hatte allein 400 Petitionen zur Folge. In Italien, wo Change.org seit 4 Jahren agiert, gibt es bereits 5 Millionen Nutzer. Seit der von Ilaria Cucchi ins Leben gerufenen Petition für ein „Anti-Folter-Gesetz“, die bis heute 232.000-mal unterzeichnet wurde, bis zu der über ein Verfassungsreferendum: Wer noch nie eine Unterschrift auf Change.org geleistet hat in der Hoffnung, auf diese oder jene Organisation Druck auszuüben und Dinge zu verändern, möge bitte die Hand heben. Im 21. Jahrhundert findet die Beteiligung an demokratischen Prozessen immer mehr über Online-Plattformen statt. Und tatsächlich mangelt es nicht an Beispielen von Online-Petitionen, durch die Veränderungen in Gang gesetzt wurden.

Es genügen bereits wenige Klicks: Jede kann eine Petition starten und jeder kann zustimmen. Das Problem ist: Wie viele Menschen sind sich wirklich bewusst, dass die persönlichen Daten, die sie der Plattform über die sogenannten „gesponserten Petitionen“ anvertrauen – also Petitionen, bei denen Change.org von den Initiatoren bezahlt wird (https://www.change.org/advertise) –, zur Profilerstellung benutzt und zudem verkauft werden? Diese Frage ist entscheidend, da es sich um sehr sensible Daten zu sozialen und politischen Überzeugungen handelt.

Fotogalerie am Ende des Texts: Change.org, soviel kosten E-Mails

Der „Espresso“ kann die Preisliste öffentlich machen, die Change.org für die Nutzer von gesponserten Petitionen anwendet: von NGOs bis hin zu politischen Parteien, die mit der Bezahlung die E-Mail-Adressen der Unterzeichnenden erwerben. Die Preise auf der Liste reichen von 1,50 € pro E-Mail-Adresse, falls der Kunde weniger als 10.000 Adressen kauft, bis hin zu 85 Cent für ein Paket von mehr als 500.000 E-Mail-Adressen. Unsere Zeitung fragte einige der NGOs, die Kunden von Change.org sind, ob es wahr ist, dass sie E-Mail-Adressen der Unterzeichnenden erwerben. Einige haben nur vage Antworten gegeben, um kein Aufsehen zu erregen – andere wie z.B. Oxfam waren so ehrlich, dies zuzugeben.

Viele sehen Change.org als eine Non-Profit-Organisation mit einer progressiven Seele. In Wirklichkeit ist es ein soziales Unternehmen. „Change.org Inc.“ wurde in Delaware gegründet, dem Steuerparadies der USA. Das Hauptquartier ist in San Francisco, im Herzen des Silicon Valley, in dem Daten das neue Erdöl sind. Und es ist wahr, dass Change.org allen erlaubt, Petitionen kostenlos einzustellen, mit dem sozialen Gedanken, auch dem letzten Obdachlosen eine Stimme zu geben. Das Unternehmen schlägt aber Profit aus den gesponserten Petitionen, die der Kunde bezahlt, um Kontakt zu den Unterzeichnern zu bekommen und damit sein eigenes Fundraising auszubauen. Woher weiß Change.org so viel? Jedes Mal, wenn wir einen Appell unterschreiben, werden Informationen über uns gesammelt, um ein Profil zu erstellen. Und wie die amerikanisch Zeitschrift „Wired“ deutlich macht: „Wenn ihr eine Petition über die Rechte der Tiere unterschrieben habt, weiß die Firma, dass ihr mit einer 2,29-mal höheren Wahrscheinlichkeit eine Petition zur Gerechtigkeit unterschreibt. Und wenn ihr eine Petition zur Gerechtigkeit unterschreibt, habt ihr eine 6,3-mal höhere Wahrscheinlichkeit eine zur ökonomischen Gerechtigkeit zu unterschreiben, eine 4,4-mal höhere, eine für die Rechte von Einwanderern zu unterschreiben und eine 4-mal höhere, eine zur Bildung zu unterzeichnen“.

Wer eine Petition unterschreibt, sollte zuerst aufmerksam die Datenschutzbestimmungen lesen. Aber wie viele tun das und wie viele verstehen, dass es reicht, den Button „halte mich über die Petition auf dem Laufenden“ angeklickt zu haben, damit die Kunden, die diese Petition lanciert haben, von Change.org die E-Mail-Adresse des Unterzeichners gegen Bezahlung erhalten können? Den Verkauf von E-Mail-Adressen bestätigt nicht nur die von „Espresso“ erhaltene Preisliste, sondern auch diese Antwort von Oxfam (eine der sehr wenigen NGOs, die in völlig transparenter Weise auf unsere Fragen geantwortet haben): „Nur wenn die Unterzeichner angegeben haben, dass sie Oxfam unterstützen wollen, werden wir dazu aufgefordert, Change.org für die Kontakte zu bezahlen“, erklärt uns die Organisation.

Auf unsere Nachfrage, was es genau bedeutet, dass „die Unterzeichner angegeben haben, Oxfam unterstützen zu wollen“, antwortet die NGO mit Hinweis auf den kleinen Button, der bei denjenigen auftaucht, die über die Petition auf dem Laufenden gehalten werden wollen. Change.org hat auf Nachfrage des „Espresso“ die Preisliste nicht geleugnet, vielmehr wurde bestätigt, „dass sie von Kunde zu Kunde variiert, auf Basis des Umfangs der gekauften Daten“, so erklärt uns John Coventry, Managing Director for Global Communications bei Change.org. Er erläutert, dass jemand, wenn er nur einmal den Button anklickt, „seine E-Mail-Adresse für die Organisation freigibt [die die gesponserte Petition lanciert hat]“. Coventry ist sich sicher, dass „die überwiegende Mehrheit der Personen, die diese Option auswählen, sich bewusst macht, dass sie E-Mails von der Organisation erhalten wird“. Die Unterzeichner gäben also tatsächlich ihr Einverständnis.

Seit einiger Zeit bezichtigt Thilo Weichert, Ex-Datenschutzbeauftragter des deutsche Bundeslandes Schleswig-Holstein, die Gesellschaft der Verletzung der deutschen Datenschutzbestimmungen. Dem Espresso gegenüber erklärt Weichert, dass die Transparenz bei Change.org viel zu wünschen übrig lässt: „Change.org liefert keine verlässlichen Informationen darüber, wie sie mit den Daten umgehen“, erklärt er uns. Auf unsere Frage, ob diejenigen, die diese Petitionen unterschreiben und dabei die Nutzungsbedingungen akzeptieren, nicht de facto informiert sind und zustimmen, antwortet Thilo Weichert, dass diese Zustimmung das Problem nicht löse. Wenn eine solche Praxis die deutschen Datenschutzgesetze verletze, könne die Firma sich nicht darauf berufen, eine Zustimmung des Nutzers erhalten zu haben. Mit anderen Worten: keine informierte Zustimmung könnte einen Gesetzesverstoß legalisieren.

Laut Thilo Weichert hat die Datenschutzkommission von Berlin eine noch laufende Ermittlung über Change.org eröffnet, wie uns die Sprecherin der Kommission Anja-Maria Gardain bestätigt. Und im April hat die Organisation Digitalcourage, die in Deutschland die „BigBrotherAwards“ organisiert, diesen Negativpreis an Change.org verliehen. „Genau wie Amazon es für Bücher ist, wollen sie die größte Plattform für alle politischen Kampagnen sein“, sagt uns Rena Tangens von Digitalcourage. Sie erklärt, dass die Firma sich sehr abweisend gezeigt hätte gegenüber Untersuchungen durch Experten wie Weichert. Weichert hatte z.B. im letzten November Change.org mitgeteilt, dass das „Safe Harbour“-Abkommen, auf das sich die Firma in ihren Datenschutzbestimmungen bezieht, in Folge der Enthüllungen von Edward Snowden vom Europäischen Gerichtshof für ungültig erklärt wurde: „eine Firma wie Change.org“, sagt uns Tangens, „hätte in der Lage sein müssen, für die notwendigen Änderungen in ihren Datenschutzbestimmungen zu sorgen“.

Die Expertin von Digitalcourage fügt hinzu, dass es in Deutschland andere Plattformen außer Change.org gibt, z.B. Campact.de. „Sie sind nicht perfekt“, ergänzt sie, „und wir haben auch sie kritisiert, Campact zeigten sich jedoch wesentlich offener für einen Dialog und für Änderungen“. Offensichtlich ist es für die Konkurrenten von Change.org nicht einfach, mit einem solchen Riesen in Wettstreit zu treten – es ist eine sehr schwierige Aufgabe für diejenigen, die sich dafür entscheiden, die Daten der Nutzer nicht zu verkaufen. Wie können sie sich auf dem Markt halten, wenn sie nicht mit dem einzigen Gold handeln, das sie zur Verfügung haben: mit den gesammelten Daten?“

Für Rena Tangens bedeutet der Ehrgeiz von Change.org, das Amazon der politischen und sozialen Petitionen zu werden, dass sie sich von ursprünglich progressiven Ideen entfernen und Kunden und Nutzer von zweifelhaften Initiativen ins Boot holen. Auf der Plattform finden sich auch Petitionen, die verlangen, dass man auf dem nächsten Parteikonvent der US-Republikaner am 18. Juli Waffen tragen darf. Und es gibt anklagende Stimmen, die Change.org des „Astroturfings“ bezichtigen – der Praxis, eine politische Initiative zu starten und zu verstecken, wer sich dahinter verbirgt, so dass sie wie eine basisdemokratische Initiative erscheint. Gegenüber dem „Espresso“ unterstreichen sowohl Weichert wie Tangens: „Das Problem ist, dass die Daten, die sie sammeln, sehr sensibel sind und Change.org sich in den Vereinigten Staaten befindet“, dass also diese Daten der Überwachung durch die US-Regierung, NSA und CIA unterliegen, wie Edward Snowden bestätigt hat.

Ausdrücklich betonen Rena Tangens und Thilo Weichert, so kritisch sie die Praktiken von Change.org auch beurteilen, dass es wichtig sei, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Sie würden es nicht darauf anlegen, die Existenz solcher Plattformen zu zerstören. „Ich glaube, dass es für demokratische Teilhabe wichtig ist, sie zu haben“, sagt uns Thilo Weichert, „aber sie müssen die Daten schützen“.

Weiterführende Informationen:

Übersetzung: Corinna Luttmann, Robert Luttmann, Textredaktion: Sebastian Lisken