Das erste Jahr nach Snowden – weltweit betrachtet

Das erste Jahr nach Edward Snowdens Enthüllungen ist vorbei. Wir blicken weltweit auf Aktionen, Proteste, Klagen und Kampagnen der Zivilgesellschaft.

Das erste Jahr nach Edward Snowdens Enthüllungen ist vorbei. In den letzten 365 Tagen wussten wir nun also, dass sämtliche Kommunikation überwacht wird, jede unser SMS potenziell aufgezeichnet wird, jede unserer E-Mails abgefangen werden kann. Dass sogar Passwörter ausgespäht werden, der Pornokonsum aufgezeichnet wird, und es 150 Angestellte des GCHQ gibt, die sich mit psychologischer Zersetzung von Aktivistengruppen befassen.

Nicht nur, dass wir Danke an Edward Snowden sagen müssen – und ihm endlich eine sichere Bleibe gewähren müssen. Wir wollen uns auch einmal ansehen, was sich in diesem Jahr geändert hat. In den ersten zwei, drei Monaten stellten uns Journalisten manchmal die Frage, warum die Menschen nicht als wütender Mob durch die Straßen ziehen. Warum Datenschutz keine Rolle spiele im Wahlkampf? Warum die Menschen nicht mehr täten? Nach und nach verstummten diese Fragen aber, in Interviews heute tauchen sie nicht mehr auf. Denn es hat sich gezeigt: Der Wandel, wie wir mit der Überwachung umgehen, ist ein langsamer aber stetiger. Von Umfragen, die zeigen, dass Menschen nicht nur besorgt sind, sondern aktiv handeln und mehr verschlüsseln, bis hin zu Google, das nun eine PGP-Erweiterung zur E-Mail-Verschlüsselung in den Browser anbinden will.

Menschen werden weltweit aktiv – aber Politikwechsel dauern

Und anderswo auf der Welt? Der Jahrestag der Enthüllungen ist überall ein großes Datum gewesen. Wir sammeln hier die verschiedenen Aktionen außerhalb Deutschlands rund um den Globus, denn schließlich ist nicht nur die Überwachung global und allumfassend, sondern auch unser Kampf dagegen! Eine kleine Auswahl präsentieren wir Ihnen hier. Da die aus der ganzen Welt kommen, sind die Webseiten hinter den Links nicht unbedingt auf Deutsch.

Besonderes Interesse in Lateinamerika

Dass die demokratiefeindlichen Praktiken der NSA in Lateinamerika besonders kritisiert werden und sich hier eine große Zahl von Aktivisten und NGOs gefunden hat, die aufklären und gegen diese Praktiken ankämpfen, lässt sich vielleicht mit ihrer Geschichte erklären: Denn in vielen lateinamerikanischen Staaten erinnert sich das kollektive Gedächtnis noch gut an die verschiedenen Diktaturen und die brutalen Überwachungsapparate der Diktatoren.

  • So hat die chilenische NGO „derechos digitales“ (digitale Rechte) einen spanischen Leitfaden herausgebracht über „Gute Praktiken im Internet“, in dem zum Beispiel gezeigt wird, wie man sich anomym im Internet bewegt oder über das Internet mobilisiert. Außerdem haben sie ein FAQ rund um Anonymität, Privatsphäre und Rechte im Internet herausgebracht.

  • Die kolumbianische NGO „red para todos“ (Netz für alle) hat acht Maßnahmen auf Spanisch anschaulich dargestellt, die Regierungen und Firmen ergreifen müssen, damit das Internet wieder allen Menschen und nicht den Diensten gehört.

  • Die argentinische NGO „Asociación por los derechos civiles“ (Gesellschaft für Bürgerrechte) hat mehrere Konferenzen abgehalten, eine eigene Informationsplattform auf Spanisch über die Enthüllungen gestartet und zwei Rechtsbeschwerden gegen die eigene Regierung eingelegt. Bei einer dieser Beschwerden ging es auch um die Fotodatenbank im argentinischen Personalausweis, über die wir auch schon berichteten. Außerdem haben sie eine Studie namens „Wer überwacht die Überwacher“ erstellt und Aufsichtsmechanismen über Geheimdienste untersucht. Fazit für Argentinien, das genauso gut für andere Staaten gelten mag:

Es ist nicht nur unmöglich herauszufinden, ob das Kontrollgremium effektiv funktioniert, sondern es ist unmöglich, herauszufinden, ob es überhaupt funktioniert. (no solamente es imposible saber si funciona efectivamente, sino que también es imposible saber si simplemente funciona)

Von der brasilianischen Präsidentin Dilma Roussef ist – wie von Angela Merkel – bekannt geworden, dass sie von direkt von der NSA abgehört wurde. Dilma Rousseff hat daraufhin aber viel schärfer reagiert und eine Rede vor den Vereinten Nationen gehalten. Außerdem hat sie den sogenannten Marco Civil auf den Weg gebracht. Eine sehr progressive Gesetzesinitiative, die unter anderem das Recht auf Privatsphäre online stärkt, Netzneutralität festschreibt und Überwachung eingrenzen soll.

Mehr NGOs, die sich in Lateinamerika für den Kampf für ein überwachungsfreies Internet und für unsere Privatsphäre einsetzen, finden sich auch auf RedLatAm.

Klagen, kreative Ideen und Informationen in Europa

  • In England hat Privacy International viel geleistet und unter anderem eine Klage gegen den Einsatz von Spyware durch den britischen Geheimdienst GCHQ eingereicht, die erste dieser Art und ganz ähnlich der Strafanzeige, die wir unter anderem gegen die Bundesregierung gestellt haben.

  • Ebenfalls in England hat Simon Davis von Privacy Surgeon eine weltweite Analyse verschiedener Regierungsmaßnahmen zusammengestellt – mit der Unterstützung vieler Organisationen, unter anderem Edri und Reporter ohne Grenzen.

  • Die polnische NGO „Panoptykon“ hat den amerikanischen Präsidenten in Polen begrüßt. Obama kam am 4. Juni 2014 nach Polen, um an den Beginn der friedlichen Revolution 1989 zu erinnern. Panoptykon nahm das zum Anlass, auch Präsident Obama an etwas Wichtiges zu erinnern: „Surveillance is not freedom!“ Dabei ließen sich polnische Aktivistinnen und Aktivisten mit diesem Spruch fotografieren und sammelten die Bilder für Obama. Außerdem hatte Panoptykon direkt nach den Snowden-Enthüllungen 100 Fragen an die eigene Regierung gerichtet, um die Verstrickungen der polnischen Regierung in die Massenüberwachung aufzuklären. Bis heute blieben diese Fragen unbeantwortet.

  • La Quadrature du Net aus Frankreich hat den NSA-Observer ins Netz gestellt, um Licht in die vielen verschiedenen Programme der NSA zu bringen:

Das alles zeigt: Der Protest gegen die Überwachung ist in vollem Gange. Die Veränderungen sind langsam, aber das Klima für die Überwacher wandelt sich, wie übrigens auch Sascha Lobo in seiner heutigen Kolummne feststellt.

Das Allerwichtigste aber ist, Edward Snowden ist nicht enttäuscht worden. Seine größte Furcht war, dass die Öffentlichkeit sich nicht für seine Enthüllungen interessieren würde. Das erste Jahr danach zeigt: Er hat sein bisheriges Leben nicht umsonst aufgegeben. Er hat einen der größten Beiträge für unsere Demokratie geleistet. Danken wir es ihm!