Braucht ein #Neuland keine Verfassung?

Schülerpreisträger Kilian Stenzel gewann mit diesem Text den zweiten Preis vom Deutschen Anwaltverein. Er fragt darin nach einer Verfassung fürs Internet.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar – außer im Internet?“ Mit dieser Frage hat der Deutsche Anwaltverein Schülerinnen und Schüler aufgerufen Beiträge einzureichen. Der 18-jährige Kilian Stenzel hat den zweiten Platz belegt und Rena Tangens hielt seine Laudatio (pdf). Wir veröffentlichen hier seinen Text. „Braucht ein #Neuland keine Verfassung?"

„Das Internet ist für uns alle Neuland (…)“ Dieses Zitat ist erst gute zwei Jahre alt und stammt von Bundeskanzlerin Merkel, die dafür viel Kritik und Häme – vor allem im besagten #Neuland – einstecken musste. Will man diesen Satz nun als persönliches Armutszeugnis oder verspätete politische Reaktion auf die Existenz dieses neuen „Kontinents“ Internet werten, so enthält er doch eine wichtige Essenz: Wir bewegen uns auf unerforschtem Terrain, wir sind Pioniere einer weltweiten Erforschung, wir – das sind 3 Milliarden – Nutzerinnen eines Netzwerks, das sich täglich ausdehnt, wie einst das Grenzland in den Vereinigten Staaten. Doch nach Jahrzehnten, in denen das Gesetz des Stärkeren galt, hatte man sich 1787 auch dort auf ein gemeinsames Wertesystem in einem endlos erscheinenden Land geeinigt: Die Verfassung.

Grenzenloses Neuland

Doch nun – Jahrhunderte später – muss man sich erneut die Frage stellen: Wie groß ist das Neuland eigentlich wirklich? Sind ihm überhaupt Grenzen durch eine Verfassung gesetzt? Gibt es auch ethische Grundsätze in dieser Gemeinschaft aus Nutzer oder herrscht hier bis jetzt auch nur das Recht der Masse, gegeneinander statt miteinander? Die physischen Grenzen des Internets sind noch lange nicht erschlossen, die virtuelle Landkarte ist größtenteils weiß. Über die Beschaffenheit der realen Grenzen des Internets lässt sich mit Sicherheit streiten und Prognosen sind äußerst schwer zu treffen. Allerdings sind die umsatzstärksten Unternehmen weltweit Anbieter von internetfähiger Hardware und Software, weshalb ein Erreichen der Kapazität wahrscheinlich auf sich warten lässt, solange nicht jeder Mensch auf dem Planeten zu einem sogenannten Smombie mutiert ist. Komisch, wie sich in einem Neuland innerhalb von zwei Jahren eine Zombie-Apokalypse entwickeln kann.

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Eine Verfassung für Neuland?

Einen allgemeinen Ethos oder eine Verfassung hat das Neuland bisher nicht, doch wer behauptet, das Internet sei rechtsfreier Raum, hat sich zum Glück getäuscht. Bewiesen wird das durch den jüngst veröffentlichten Bußgeldkatalog wegen Hassrede im Netz und deren Konsequenzen. Außerdem existieren neben dem Urheberrecht, Vertragsschutz und einem – so scheint es – schwammigen Datenschutzrecht eine Reihe national gültiger Rechte. Bislang gibt es jedoch kein international verbindliches Strafrecht und keine globale Verfassung Im Internet, überall gelten andere Regeln. Dieses Problem kann deshalb kein Land im Alleingang lösen, denn „worldwide“ bedeutet eben auch wirklich „worldwide“. Der rechtsfreie Raum endet dort, wo man es nicht versäumt, das Recht zu verteidigen und auf rechtlichen Grenzen zu beharren.

Kein Ort für Kompromisse

Die ethischen Grenzen hingegen sind nach wie vor offen: Cyber-Mobbing, Shitstorms und neuerdings rassistische Hetze gegen Flüchtlinge werden selten geahndet und entwickeln sich zu einem perfiden Alltagsphänomen. Viele Kommentarautoren und Autorinnen – in den Deckmantel der Anonymität gehüllt – vergessen, dass hinter jedem Bildschirm ein Mensch mit echten Gefühlen steckt. Mit Gefühlen, die so komplex sind, dass sie nicht durch Emojis ausgedrückt werden können. Täglich kollidieren Interessen und Meinungen frontal – das Netz ist kein Ort für Kompromisse. Spaß wird auf Kosten Anderer gemacht – jeder liebt jeden, jeder folgt jedem, jeder hört jedem zu, bis alle auf einmal einen hassen.

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Staatliche Aufgaben

Doch wo bleibt hier der Schutz von Privatpersonen, öffentlichen Personen, ethnischen Minderheiten, Flüchtlingen? Müssen wir alle damit rechnen, dass uns jeder Riss in unserem Mantel der Unsichtbarkeit schadet? Dass jede Information die Google, Facebook, Twitter und Co. von uns sammelt, eine zu viel ist? Dass wir erpresst werden könnten, weil wir unsere Privatsphäre der Wirtschaft auf dem Silbertablett serviert haben? Alles Fragen, die eigentlich nicht nur mich, sondern auch den Staat beschäftigen sollten, der nach eigenen Angaben schon auf dem neuen Kontinent angekommen ist. Bis jetzt verteidigt er die Verfassung nur im realen Leben, jedoch nur in Ausnahmefällen online, wo doch „Meinungsfreiheit“ und „Privatsphäre“ fließend in „ungehemmte Volksverhetzung“ und „anonymisierte Kriminalität“ übergehen. Der Staat muss bei der Verletzung der Menschenwürde auch im virtuellen Raum adäquat reagieren und verfassungsfeindlichen Gruppen schnellstmöglich die Öffentlichkeit entziehen, da sonst der Terror und die Gewalt, in den „sozialen“ Netzwerken verherrlicht, auf die Straße getragen wird.

Blick über den Smartphone-Rand

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Ich erhoffe mir von der Gesellschaft nicht mehr, als dass wir unsere menschlichen Werte – und in diesen Tagen sollte man sich in europäischen und deutschen Werten lieber in Vorsicht sonnen – beim Blick aufs Smartphone nicht sofort über Bord werfen. Und ich erhoffe mir vom Staat, dass er hinsieht, wenn die Menschenwürde und die Privatsphäre seiner Bürger und die der Bürger anderer Länder leidet.

Menschenwürde – das bedeutet für mich in Frieden leben zu können, ein Recht auf Sicherheit der Person und Sicherheit des eigenen Rufs zu haben, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht. Doch genau diese Menschenwürde sehe ich derzeit akut gefährdet, da sie im Internet ungeahndet verletzt werden kann und die Beiträge an der öffentlichen Meinungsbildung teilhaben. „Gutmenschen“ gegen „besorgte Bürger“. Es herrscht ein Krieg der Meinung.

Propheten im Netz

Auf allen Plattformen wird stets derjenige gehört, der virtuell am lautesten schreit und dem möglichst viele zuhören. Solche Blogger.innen erinnern von Zeit zu Zeit an frühere Propheten. Allein schon durch die Funktion des „Folgens“ wird hier deutlich: Diesen Menschen wird blind vertraut, ihr Wort ist für die Medien-„Jünger“ Gesetz, nebensächlich woher sie ihre Quellen beziehen und unwichtig, wie stupide oder zweifelhaft ihre Botschaften sind. Hinterfragt man ihre Beiträge, zeigt sich oft, wie verhärtet ihre falschen Ansichten wirklich sind. Als Schüler hätte man sie lernresistent genannt. Leider sind sie mittlerweile ihre eigenen Lehrerinnen und finden unmittelbar Gleichgesinnte, die Meinung wird zur Bildung. Die Bildungsfernen unterrichten die Bildungsferneren. Köpfe voller nutzloser Information. So ist es nicht verwunderlich, dass dem seriösen Journalismus der Boden unter den Füßen wegrutscht und dass Fehlinformationen sich im Netz wie Lauffeuer verbreiten und sofort für bare Münze genommen werden, da durch das Prinzip „liken“ und „followen“ zu schnell Vertrauen aufgebaut wird.

Schön und gut. Aber was tun?

Entfolgen lernen

Es gilt: Wer meine Ansicht vertritt, hat Recht – und zwar in letzter Konsequenz, weil niemand gern an sich selbst zweifelt. Viele haben den Zweifel verlernt, um sich sicher zu fühlen. Ich möchte niemandem mehr folgen. Folgen ist bequem, Folgen macht abhängig, Folgen ist mitunter gefährlich. Deshalb habe ich für mich entschieden „soziale" Netzwerke zu meiden. Nichtsdestotrotz will ich Haltung bewahren, meine Meinung äußern und immer aufmerksam und kritisch hinterfragen, was andere äußern. Weiterhin finde ich, wir sollten die menschlichen Umgangsformen auch in der virtuellen Diskussionskultur wahren. Es sollten keine Grenzen überschritten werden, die im echten Leben Geltung haben und im Gesetz verankert sind. Alles, was wir im Umgang mit und im Internet beachten sollten ist dies: Die Würde des Menschen ist auch hier – im Neuland – unantastbar.