„Schutzranzen“: Rote Karte für den Ludwigsburger Oberbürgermeister

Der Ludwigsburger Oberbürgermeister bekommt von Verbänden die Rote Karte in Sachen nachhaltiger Mobilität unter anderem wegen dem Kinder-Tracking-Projekt „Schutzranzen“ und der Rolle der Autoindustrie bei der Digitalisierung des Verkehrs.
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Collage: „Rote Karte für Ludwigsburger Oberbürgermeister.“

Rote Karte für den Ludwigsburger Oberbürgermeister

Ludwigsburger Oberbürgermeister bekommt die Rote Karte in Sachen nachhaltiger Mobilität: Ludwigsburg habe seit der Verleihung des Titels zur „nachhaltigsten Stadt Deutschlands mittlerer Größe“ vor vier Jahren eine Rolle rückwärts vollzogen, urteilen die Vertreter der Ludwigsburger Verbände des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), der Stadtbahn- und Radwegeinitiative, des Allgemeinen deutschen Fahrradclubs (ADFC) und der bei der Zukunftskonferenz 2012 entstandenen Gruppe Vision 2025+X. Da Ludwigsburg noch immer an den von uns fundamental kritisierten sogenannten Schutzranzen (Kinder werden getrackt und ihre Positionsdaten an die Autoindustrie weiter gegeben) festhalten, beobachten wir das weitere Verkehrsgeschehen der Stadt in Baden-Wurrtemberg.

Brief als PDF

 

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,


Sie haben uns bei unserem Gespräch vor 2 Jahren, anlässlich des 200. Geburtstags des Fahrrads versichert, dass Sie sich für eine gute Radverkehrsinfrastruktur in Ludwigsburg einsetzen werden. Leider sehen wir trotz Ihres vielfältigen Engagements für Ludwigsburg keine Erfolge für eine nachhaltige Mobilität.

Im Gegenteil:
Mit der Beschlussvorlage Nr. 213/18 hat die Stadtverwaltung vorgeschlagen, die Poller in der Alleenstraße zeitweise wieder abzusenken. Vielleicht wollten Sie FW und CDU entgegenkommen. Das ist glücklicherweise schief gegangen. Was bleibt, ist ein OB, der mit seiner Stimme wider besseren Wissens der Ideologie von auto-verliebten rückwärtsgewandten Kommunalpolitikern gefolgt ist. Ihr Bekenntnis zur Förderung des Radverkehrs ist damit unglaubwürdig geworden. Vielleicht halten Sie das für eine Lappalie, für uns war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Sie und viele Mitglieder des Gemeinderates haben leider noch immer nicht verstanden, dass wir für eine nachhaltige Mobilität neue Prioritäten setzen müssen. Das KFZ - ganz egal ob elektrisch oder fossil betrieben oder autonom fahrend - ist in dichtbesiedelten Regionen eine äußerst ineffektive Form der Fortbewegung mit zu hohen Belastungen für die Menschen in der Stadt.

Es geht nicht darum, das Auto abzuschaffen, sondern den Autoverkehr auf das absolut nötige Maß zu reduzieren. Andere europäische Städte machen es vor und bauen konsequent die Infrastruktur auf Kosten des Autoverkehrs um, zugunsten von Fußgängern, Radverkehr und ÖPNV! Dies ist dann aber keine Bevorzugung der „anderen“ Verkehrsmittel, sondern endlich ein Schritt in Richtung Gleichberechtigung der Verkehrsmittel. Denn der Autoverkehr wurde jahrzehntelang und wird bis heute in hohem Maße begünstigt. Ludwigsburg hat mit dem Umbau der Marbacher Straße einen ersten Schritt getan. Aber es gibt in Ludwigsburg keine sichtbaren Konzepte, die aufzeigen, wie der Autoverkehr in der Stadt wirklich reduziert werden soll. Ohnehin scheint es Ihnen wichtiger zu sein, Fahrverbote zu umgehen, als die Aufenthaltsqualität in der Stadt zu verbessern. Etwa durch Verlagerung des Verkehrs, weg von den Messstellen. Dabei wären Fahrverbote mit Blick auf die Probleme, die auch Ludwigsburg mit dem Klimawandel bekommen wird, marginal.


Warum lässt sich Ludwigsburg von Porsche 500 000 € für Ludwigsburger Verkehrsanalysen zahlen, während die Porschetochter PTV Verkehrsanalysen in Ludwigsburg durchführt!? Die Autoindustrie hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht überzeugt und ist auch heute noch nicht an der Lösung der Probleme des MIV interessiert. Von der Abgasbetrügerei der Konzerne ganz zu schweigen.


Weitere Beispiele, die zeigen, dass man in Ludwigsburg gar nicht daran denkt, endlich ernsthaft auf effektive nachhaltige Verkehrsmittel und Fortbewegungskonzepte zu setzen:

– Beim Wettbewerb der Energiehelden wurden Spritspartipps aus den 90er-Jahren gegeben, anstatt aufzuzeigen WIE man auf das Auto verzichten kann (Radstation, Leihräder, ÖPNV-Angebot).
Fällt der „nachhaltigsten Stadt Deutschlands“ nichts Besseres ein als dies: https://www.lkz.de/specials/energiehelden_artikel,-Nachhaltige-Mobilitaet-_arid,454855.html


– Sie setzen weiterhin auf das bei Nachbarkommunen und in der Bevölkerung ungeliebte BRT-System und gefährden damit eine Niederflurstadtbahn für Ludwigsburg, die effektiv und nachhaltig für eine attraktive Mobilität in Ludwigsburg sorgen würde. Wie wollen Sie die separaten Bustrassen in 3 Jahren umsetzen, wenn Sie es in 2 Jahren nicht einmal schaffen, die 200 m zusätzliche Busspur in der Schorndorfer Straße durchzusetzen? Sie bezeichnen CDU und FW, die auch auf das BRT-System setzen, als „Bürgerliches Lager“. Mit einem Bürgerentscheid könnten Sie eines anderen belehrt werden. Unser Eindruck ist, dass ein Großteil der Bürgerschaft einer schienengebundenen Bahn deutlich den Vorzug vor einem Bussystem gibt.

– Das Schutzranzen-App-Projekt, das Sie trotz massiver Kritik hartnäckig weiterverfolgen, zeigt, wie durch unreflektierte Digitalisierungseuphorie unnötig Ressourcen (Geräte, Chips) und Energie (Betrieb der Geräte und Datenabfragen) verschwendet werden. Diese App nutzt in erster Linie der Autoindustrie. Bei Digitalcourage e.V. heißt es bereits, dass die Lobby der Automobilindustrie bis in die Verwaltung reicht. Und Heinz Handtrack, der Verantwortliche für Nachhaltige Mobilität in Ludwigsburg stellt auf seiner Webseite ja auch ganz ungeniert zur Schau, dass er zuvor in Brüssel die Interessen der Automobilindustrie vertreten hat: http://www.proconman.de/pro.html

Digitale Spielereien im Auto oder „Smart-Home“ führen nicht dazu, dass wir Energie und Ressourcen sparen, im Gegenteil. Wer nachhaltiges Wirtschaften ernst meint, muss immer auch die Suffizienzfrage stellen. Wir müssen aufhören, Verzicht nur negativ zu bewerten. Vielleicht sollte man Suffizienz als eine Kultur des Genugseins sehen. Eine Kultur, die uns hierzulande gut zu Gesicht stünde. Es ist sicher gut und erforderlich, digitale Technik überall einzusetzen, wo sie Nutzen für die Allgemeinheit bringt, hilft klimaschädliche Aktivitäten zu vermeiden sowie Ressourcen einzusparen. Wir sollten aber nicht unreflektiert auf der Digitalisierungswelle reiten, sondern besser schauen, wohin man getragen wird. Zum Nachdenken über die Sinnhaftigkeit mancher Projekte übergeben wir Ihnen anbei ein Buch mit Zahlen und Fakten, die den Schein der smarten grünen Welt etwas entzerren (Steffen Lange, Tilman Santarius, Smarte grüne Welt – Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit, Oekom-Verlag, Februar 2018. siehe auch: https://www.zeit.de/2018/06/digitalisierung-klimaschutz-nachhaltigkeit-strombedarf).

Sie wollen im nächsten Jahr für weitere acht Jahre als Ludwigsburger OB gewählt werden. Die Entwicklung der Stadt hat seit der Titelverleihung zur „nachhaltigsten Stadt Deutschlands mittlerer Größe“ einen Rollback genommen. Wie wollen Sie bei Ihren Bürger*innen für eine zukunftsfähige Stadt werben, die diesen Titel auch verdient? Ihr Engagement für Beteiligung und Zukunftskonferenzen ist unglaubwürdig, wenn Sie die Ergebnisse daraus nicht umsetzen.

 

Es grüßen Sie sehr enttäuscht langjährige ehrenamtliche engagierte Bürger*Innen
Katja Goll (ADFC)
Christian Volkmer (ADFC)
Roswitha Matschiner (Ludwigsburg Radwegeinitiative)
Andreas Stier (VCD)
Gudrun Meissner (Gruppe Vision 2025+X)

Kritik an der Antwort der Stadt Ludwigsburg

(Aktualisierung vom 17.8.2018)

Der Ludwigsburger Bürgermeister Michael Ilk hat auf den offenen Brief der Verbände geantwortet. Beide Schreiben wurden von der Radwegeinitiative Ludwigsburg veröffentlicht. In Bezug auf das Projekt „Schutzranzen“ widersprechen wir der Antwort des Bürgermeisters in zwei Punkten.

„Der Hersteller, die Firma Coodriver, hat die App freiwillig den niedersächsischen Datenschutzbehörden zur Prüfung vorgelegt“, erklärt Bürgermeister Michael Ilk in seiner Antwort.

Unseren Informationen nach ist das nicht korrekt. Die Prüfung der Datenschutzbehörde erfolgte nicht freiwillig. (Unser Tweet zu diesem Punkt)

„Bei der Schutzranzen-App geht es darum, einen Beitrag für die Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr zu leisten und Unfälle zu vermeiden“, schreibt Bürgermeister Michael Ilk in seiner Antwort.

Unserer Einschätzung nach ist „Schutzranzen“ kein Beitrag für die Sicherheit von Kindern im Straßenverkehr. Im Gegenteil: Die Nutzung von Mobiltelefonen im Fahrzeug ist nachweislich Unfallursache Nr. 1 in Deutschland, egal, ob die Ablenkung optisch oder akkustisch erfolgt. Diese Einschätzung teilen Verkehrsverbände und die Polizei Ludwigsburg. Hinzu kommen IT-Sicherheitsproblem, Datenschutzprobleme sowie gesellschaftliche und pädagogische Bedenken. Es gibt bessere Alternativen, das Projekt hat mehr Nachteile als Vorteile. Für die Aussage, dass „Schutzranzen“ die Sicherheit erhöht, gibt es unserer Kenntnis nach, keine Belege. (Unser Tweet zu diesem Punkt.) Mehr Informationen zu „Schutzranzen“ gibt es auf digitalcourage.de.

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