Tausche Bürgerrechte gegen Linsengericht

Sind die Gefahren von Überwachung wirklich nur ein Luxusproblem? Wie kommt es, dass Menschen für ein Linsengericht ihre Freiheit aufgeben?

Ein Artikel aus der Reihe „Classics, die nicht alt werden wollen“: Rena Tangens schrieb ihn 2004. Wir haben ihn so belassen, wie er war. Denn er ist eher noch passender geworden. Für eine (annähernd) vollständige Liste der aktuellen Überwachungsbestrebungen schauen Sie in der Überwachungsgesamtrechnung vorbei.

[English translation / englische Übersetzung]

„Schöne neue Welt“, Aldous Huxleys Vision eines Staates, in dem Menschen angenehm konsumieren können, aber perfekt manipuliert in geistiger Unfreiheit leben, ist weitaus moderner als „1984“, George Orwells Schilderung eines totalitären Überwachungsstaates. Wir sollten aber nicht annehmen, dass der Überwachungsstaat sich damit überlebt hätte. In den letzten Jahren sind die bürgerlichen Freiheiten in Deutschland immer weiter eingeschränkt worden:

Das deutsche Innenministerium und die Überwachungsindustrie zählen klar zu den Profiteuren des 11. September 2001. Kaum eine Überwachungsmaßnahme, die nicht mit dem angeblich drohenden „internationalen Terrorismus“ begründet würde. Fast alle Maßnahmen zielen allerdings nicht auf Kriminelle oder unmittelbar Tatverdächtige, sondern betreffen Millionen völlig unbeteiligter Bürgerinnen und Bürger. Die Unschuldsvermutung – die bedeutendste Regelung des Rechtsstaatsprinzips folgt aus Artikel 6 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention – wird faktisch ausgehebelt. Diese willkürliche Law-and-order-Politik ohne Rücksicht auf Verluste bedarf der Aufmerksamkeit, der Kritik und des Widerstandes.

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Politik muss umdenken

Die Innenpolitik ist nicht Thema dieses Artikels, aber sie bildet den Hintergrund, vor dem das Folgende betrachtet werden sollte. Der vorliegende Text befasst sich mit dem kommerziellen Datensammeln durch die Wirtschaft und den daraus folgenden Gefahren für Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung. Viele halten dies für ein „Luxusproblem“, denn die Nutzung beispielsweise von Handy, Kredit- oder Kundenkarten sei freiwillig und „mündige Verbraucher“ könnten ihre Vertragsbedingungen selbst aushandeln. Oder mit anderen Worten: Das Thema Datenschutz in der Wirtschaft sei unwichtig, denn das regele der freie Markt schon alleine.

Doch wie kommt es, dass Menschen für ein „Linsengericht“1 ihre Bürgerrechte leichtfertig aufgegeben, die andere Menschen vor Jahrhunderten unter Einsatz ihres Lebens erkämpft haben? Warum geben Menschen durch Nutzung einer Kundenkarte für 0,5 % Rabatt ihren kompletten Einkaufszettel preis, der dazu auch noch mit Name, Adresse, Geburtsdatum und Telefonnummer personalisiert ist.

Vermutlich nicht, weil sie denken, dass ein halbes Prozent viel wäre, sondern weil sie mangels besserer Information den Daten, die sie im Tausch dafür hergeben, keinen großen Wert beimessen. Der Gegenwert ist aber nicht nur ganz pragmatisch der Preis, den ihr Datensatz später im Adresshandel erzielt, sondern der Gegenwert ist die Privatsphäre, die Handlungsfreiheit und die informationelle Selbstbestimmung.

Den meisten Menschen ist klar, dass ihre Privatsphäre angegriffen wird, wenn sie Objekt von Überwachung werden (zum Beispiel Videoüberwachung oder Abhören des Telefons) oder wenn ihre persönlichen Geheimnisse an die Öffentlichkeit gezerrt werden. Doch dass ihre Privatsphäre auch verletzt werden kann durch die ständige Sammlung, Auswertung und Nutzung einer Vielzahl von Daten, die bei jeglichen alltäglichen Handlungen anfallen – dieses Bewusstsein ist erst langsam im Entstehen.

Warum ist Privacy wichtig für die Demokratie?

Ein Mensch, der ständig beobachtet, registriert, vermarktet und von speziell auf ihn abgestimmte Vorschlägen und Angeboten begleitet wird, verändert mit der Zeit sein Verhalten und richtet es nach den Erwartungen derer aus, die seine Daten auswerten. Auf Individuen abgestimmte Manipulationsmöglichkeiten, die durch die zunehmende Erfassung z.B. von Konsumverhalten und Bewegungsdaten sowie faktischer Anpassungsdruck führen zu einer zunehmenden Fremdbestimmung.

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Gefahren der Datensammlung

Dabei ist nicht nur zweckentfremdender Datenmissbrauch möglich, vielmehr ist bereits der Datengebrauch problematisch. Die Sammlung, Speicherung, Akkumulation, Kombination, Auswertung und Nutzung von vielen banalen Daten aus dem alltäglichen Leben – Informationen, die jeweils für sich gesehen keineswegs „geheim“ sind – birgt somit bereits Gefahren für die informationelle Selbstbestimmung. Werden diese Daten vernetzt, können sie zu weitreichenden Persönlichkeitsprofilen zusammengestellt werden. Anonyme Maschinerien, auf die die Bürgerinnen und Bürger keinen Einfluss haben, von deren Existenz sie oftmals nicht einmal wissen, ordnen sie nach Merkmalen und Verhaltensweisen in verschiedene Typisierungen ein und sorgen dafür, dass sie fortan entsprechend der Typisierung behandelt werden. Von den Daten kann nicht nur abhängen, welche Werbung ihnen zugeschickt wird, sondern auch welchen Job, welche Versicherung, welche Wohnung Sie bekommen – und ob überhaupt. So kann eine derartige Typisierung zu einer erheblichen Einschränkung der persönlichen Handlungsspielräume führen.

Wer sich dieser Datenerfassung nicht bewusst ist, tauscht sorglos Privatsphäre gegen Bequemlichkeit ein. Das Machtgefälle zwischen Bürger/innen und Verwaltung beziehungsweise zwischen Verbraucher/innen und Wirtschaft verstärkt sich. Der „mündige Verbraucher“ wird von der Wirtschaft immer dann herbeizitiert, wenn er über den Tisch gezogen werden soll.

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Kontrollverlust

Da die Speicherung und Auswertung vieler Datenspuren für die Bürger/innen nicht transparent ist, und weil negative Folgen für die Individuen nicht direkt spürbar sind, sondern möglicherweise erst viele Jahre nach der Datenspeicherung auftreten und die Ursache oft nicht erkennbar ist, findet hier ein substantieller Kontrollverlust der Bürgerinnen und Bürger statt. Sie werden nicht unvoreingenommen in der Gegenwart betrachtet und auch nicht mehr gefragt, sondern sie werden auf Grundlage von Daten aus der Vergangenheit kategorisiert und gemäß einer Prognose für die Zukunft behandelt: Firmen interessiert in der Regel weder der Einzelfall noch die Wahrheit, es geht um Gewinnmaximierung im Gesamtergebnis. Jede Bürgerin und jeder Bürger ist aber ein Einzelfall – ihnen gehen Handlungsoptionen und Entscheidungsfreiheit verloren. Wer die möglichen Folgen der Datensammelwut nicht kennt, wird zur Manövriermasse derer, die Zugriff auf die Daten haben und diese für sich verwerten Wer sich hingegen bewusst ist, dass eben diese Art der Informationsauswertung stattfindet, wird sich bemühen, sein oder ihr Verhalten anzupassen. Das kann je nach Situation bedeuten: sich unauffällig (oder auch besonders auffällig) benehmen, die (vermutete) Erwartung des Beobachters erfüllen oder aber auch ausweichen, sich verbergen, sich nicht äußern, anonym bleiben, lügen.

Wer sich aber laufend beobachtet fühlt, wird nicht nur in der freien Entfaltung der Persönlichkeit behindert, sondern nimmt auch von der Verfassung garantierte Rechte wie freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit möglicherweise nicht mehr in Anspruch. So zerstört der Verlust der informationellen Selbstbestimmung die Fähigkeit zur Kommunikation und zur Partizipation. So gehen die Ideen, Meinungen und Talente dieser Menschen nicht mehr in die Allgemeinheit ein und damit auch das Engagement für etwas, das über die eigenen Interessen hinaus geht, für die Gesellschaft verloren.

Hier geht es also keineswegs nur um private Bedürfnisspielräume, die jeder ohne Schaden für sich selbst aushandeln könnte. Zur Disposition stehen vielmehr zunehmend Grundrechte, die nicht verhandelbar sind, sondern unverzichtbar für Gemeinwohl und Demokratie.

Warum nicht den Datenschutz dem freien Markt überlassen?

Von Seiten der Wirtschaft wird oft das Argument vorgetragen, die Menschen seien doch mündige Verbraucher und könnten selbst entscheiden, was sie wollen. Aber es gibt viele Gründe, warum das mit dem selbständigen Aushandeln der Datenschutzbedingungen zumeist nicht klappt:

  • Die Verbraucher/innen haben keine oder nur sehr rudimentäre Information über mögliche langfristige Folgen.
  • Die Vertragsbedingungen, denen sie zustimmen sollen, sind meist völlig unlesbar. Es ist schlicht nicht zumutbar, erst seitenlange, in Juristensprache verfasste AGBs kritisch zu lesen, um zum Beispiel eine Bestellung aufzugeben.
  • Oft wird eine Irreführung der Verbraucher/innen auch mehr als billigend in Kauf genommen. Welcher Verbraucher ahnt schon, dass „Ihre Daten werden vertraulich behandelt, sie werden grundsätzlich nicht an unberechtigte Dritte weitergegeben.“ keineswegs heißt, dass die Daten nicht weitergegeben würden. Sondern vielmehr, dass das zwar „grundsätzlich“ so ist, aber das „grundsätzlich“ keine Verstärkung der Aussage ist, sondern bedeutet, dass es Ausnahmen gibt, und zwar bei „berechtigten“ Dritten. Und dass berechtigte Dritte diejenigen sind, die die Adresse auf dem Adressmarkt, angereichert mit Alter, Wohnortgröße, Kaufkraft und „Versandhandelsneigung“ kaufen. So geschehen bei Tchibo direct, die die Daten ihrer Kund/innen über AZ direct / Arvato / Bertelsmann zum Kauf anbieten. Diese „Ausnahme“ ist übrigens die Regel – fast alle Versandhandelsunternehmen „vermieten“ oder verkaufen die Adressen ihrer Kunden. An diesem Beispiel einmal durchexerziert: Damit die Verbraucher verstehen, um was es geht, müsste der Vertragstext etwa so lauten:

    Ich bin einverstanden, dass meine Adresse, angereichert mit Alter, Wohnortgröße, Kaufkraft und Versandhandelsneigung auf dem kommerziellen Adressmarkt verkauft wird.

    ☐ Hier ankreuzen, falls ja.


    Wie viele da wohl ja ankreuzen würden?

„Ich bin damit einverstanden Digitalcourage zu unterstützen“ Lieber hier „ja“ ankreuzen.

  • Oder wer weiß, dass die „Informa Unternehmensberatung“, mit der viele Direktbanken laut ihrer Vertragsbedingungen Daten austauschen, keine Unternehmensberatung ist, sondern ein Scoring-Unternehmen?
  • Verbraucher verlassen sich in Deutschland a) auf die Gesetze, b) darauf, wenn etwas schief geht, sich schon irgendeine Institution für sie darum kümmern wird. (Also erst einmal fleißig Rabatt in Anspruch nehmen und sich dann bei den Datenschutzbeauftragten oder bei den BigBrotherAwards zu beschweren.)
  • Und: Der einzelne Verbraucher verhält sich zunächst einmal egoistisch und keineswegs so, wie es für die Gesamtheit der Verbraucher von Vorteil wäre. Langfristig ist das ein Nachteil auch für den einzelnen.
  • Divide et impera. Solange die negativen Folgen nur andere betreffen, ist alles egal. Es geht ja nur um Terroristen, Sexualstraftäter, Schwarzfahrer, Arbeitslose oder auch nur um die nervigen LKWs auf der Autobahn etc., das betrifft mich also nicht oder es nützt mir vielleicht sogar. Diese Haltung hat Martin Niemöller in seinem bekannten Zitat 2 gut charakterisiert.
  • Das Sein bestimmt das Bewusstsein: Solange jemand eine Senator Card von der Lufthansa hat und als „A-Kundin“ hofiert wird, findet sie das „Miles and More“-Konzept toll. Wenn sie ihr entzogen wird, weil Lufthansa mitbekommen hat, dass sie wegen Jobwechsel nicht mehr soviel verdient, findet sie das System plötzlich nicht mehr so gut.
  • Die Argumentation mit dem Eigentumsbegriff („Meine Daten gehören mir!“) hat sich als nicht hilfreich herausgestellt. Denn die Wirtschaft argumentiert, dass die einzelne Adresse nichts wert sei, kostbar werde eine Adresse erst dadurch, dass sie mit weiteren Informationen angereichert und mit anderen Adressen mit ähnlichen Merkmalen zusammengestellt wird.

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Was ist der Unterschied zwischen dem Bekanntsein im Tante-Emma-Laden und der Payback-Karte?

Das ist ähnlich wie der Unterschied zwischen einem Polizisten, der Streife geht, und einer Videoüberwachung. Zum einen ist es eine Frage der Gegenseitigkeit. Im ersten Fall ist eine Person das Gegenüber, im anderen eine anonyme technische Struktur, wo verborgen bleibt, was eigentlich passiert. Bei einer Videokamera ist völlig unklar, ob sie funktioniert, wer auf den Monitor guckt, ob die Kamera in meine Richtung schaut, ob jemand am Monitor gerade auf meinen Ausschnitt zoomt oder auf das Buch, das ich auf der Parkbank lese. Guckt überhaupt jemand? An wie viele Stellen gleichzeitig wird übertragen? Wird aufgezeichnet? Wie lange wird die Aufnahme aufbewahrt? Wer hat Zugriff darauf?

Im Tante-Emma-Laden bin ich bekannt und man weiß dort, was ich gerne einkaufe. Aber ich kenne meinerseits eben auch Tante Emma. Bei einer Kundenkarte liefere ich jedes Mal meinen kompletten Einkaufszettel ab, es ist unklar, wer diese Daten verarbeitet, wie lange sie aufbewahrt werden und wer welche Schlussfolgerungen aus ihnen zieht.

Wer in den 90ern häufiger besonders billiges Rindfleisch im Sonderangebot gekauft hat – und wir nehmen jetzt mal an, es hätte zu dieser Zeit schon Kundenkarten à la Payback gegeben – könnte so möglicherweise heute kein Angebot mehr für eine günstige Krankenversicherung bekommen, denn die möchte das Risiko einer Creutzfeld-Jacob-Erkrankung ausschließen. Dabei war das Fleisch für den Hund bestimmt, der längst in den ewigen Jagdgründen weilt – aber danach wird nicht mehr gefragt. Tante Emmas Gedächtnis ist dagegen nicht ganz so gut und sie hat auch keinen Kontakt zu Krankenkassen, die mir ein Angebot machen wollen.

Der Unterschied liegt in der fehlenden Gegenseitigkeit, im Machtgefälle zwischen Mensch und anonymer Struktur, der fehlenden Transparenz und in der Dimension.

Warum gibt es so wenig Widerstand gegen die Datensammelwut?

  • Der Einzelfall der Datensammlung erscheint unwichtig
  • Die Probleme tauchen erst später auf.
  • Dass die Ursache der Probleme in der Auswertung der gesammelten Daten liegt, wird oft gar nicht erkannt.
  • Die Zusammenhänge sind komplex und undurchschaubar.
  • Es herrscht Resignation „weil wir sowieso schon überall gespeichert sind“ oder „weil die sowieso machen, was sie wollen“
  • Es gibt einen Trend zur Entsolidarisierung in der Gesellschaft: „Ich zahle doch nicht für andere mit!“ oder „Ich zahle nur für genau das, was ich selbst verbrauche“. Das erfordert Einzelabrechnung und damit minutiöse Speicherung der persönlichen und der Verbrauchsdaten. Pauschalabgaben sind wesentlich datenschutzfreundlicher, zum Beispiel Rundfunksteuer pro Haushalt statt GEZ, die an den Besitz eines Fernseh- oder Radiogerätes gekoppelt ist, Autobahn-Vignette statt Kfz-Erfassung an Mautbrücken, Kulturflatrate statt Digital Rights Management (DRM).
  • Von Seiten der Innenpolitik werden solche Datensammlungen gerne toleriert nach dem Motto „Wer weiß, wozu man die auch mal brauchen kann.“

Schnüffelchips und Grundsätzliches

Einige grundsätzliche Überlegungen sollen im Folgenden am Beispiel der RFID-Technik angestellt werden.

RFID (Radio Frequency IDentification) sind winzige Chips mit Antenne, die eine weltweit eindeutige Seriennummer enthalten und ohne Sichtkontakt aus der Entfernung (das heißt: auch unbemerkt) per Funk ausgelesen werden können. RFID-Chips sollen nach dem Willen des Handels in einigen Jahren die Strichcodes auf den Waren ersetzen. Und sie bringen eine neue Dimension der Überwachung und Manipulation. Anders als beim Strichcode, der nur das Produkt bezeichnet, ist mit RFID jede Unterhose und jede einzelne Packung Frischkäse über die weltweit eindeutige Seriennummer identifizierbar.

Mit einer mit RFID-Chip versehenen Kundenkarte wird nicht mehr nur die Liste der Sachen, die man kauft, gespeichert, sondern eine solche Karte kann verraten, wo ich mich gerade aufhalte, wie lange und mit wem zusammen. So kann aus der Information, vor welchem Regal, in welcher Abteilung ich länger war, ein Interessenprofil generiert werden, auch ohne dass ich etwas gekauft habe. Und diese Karte kann auch in der Handtasche gelesen werden, ohne dass die Besitzerin es bemerkt. RFID stellt eine neue Qualität des Datensammelns dar.

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Daten, die wir einmal abgegeben haben, können wir nicht mehr zurückholen. Und Informationen, die wir heute als banal und unwichtig ansehen, können morgen schon eine ganz andere Bedeutung erhalten, wenn sie in einen anderen Kontext (zum Beispiel Terroristenfahndung) oder in andere Hände geraten (Arbeitgeber, Krankenkasse), wenn neue Forschungsergebnisse (zum Beispiel Zusammenhang zwischen Rindfleisch, BSE und Creutzfeld-Jakob) vorliegen oder wenn sich die politischen Verhältnisse ändern (und missliebige Personen wieder „ausgemerzt“ werden – „Ein Gesindel, das in Deutschland niemand mehr sehen will. . . “ 3)

Auch wenn eine bestimmte Anwendung heute noch nicht gemacht wird, ist dies doch für die Zukunft keineswegs ausgeschlossen. Firmen können samt Datenbestand aufgekauft werden. Aktionäre können verlangen, dass die Kundendaten doch ausgewertet werden, wenn dadurch mehr Profit erzielt werden kann 4. Eine Ermittlungsbehörde 5 kann die Daten beschlagnahmen. Allgemeine Geschäftsbedingungen, Datenschutzbestimmungen, sogar Gesetze können geändert werden 6. Auch wenn die Metro Group versichert, dass sie mit den durch RFID-Nutzung gewonnenen Daten über ihre Kund/innen im Moment nichts anfängt, heißt das nicht, dass sie es nicht in Zukunft tun wird, wenn es ihr profitabel erscheint. Große Datensammlungen wecken stets Begehrlichkeiten. Wenn sie erst einmal vorhanden sind, gibt es schnell Ideen, was man damit noch alles anfangen könnte. Das ist gefährlich. Wir brauchen datenschutzfreundliche Technik („Privacy Enhancing Technologies“).

Wenn eine technische Infrastruktur erst einmal in einer bestimmten Form allgemein installiert ist, kann sie kaum noch geändert werden. Wenn die Technik nicht von vornherein so designt ist, dass sie Missbrauch schwer oder unmöglich macht, wird er früher oder später passieren – legal oder illegal. Späteres Nachbessern an der Technik wird teuer und kann den Schaden kaum wieder gutmachen.

Wir brauchen Gesetze, die den Gefährdungen durch neue Technik wirksam begegnen.

Die RFID-Industrie, der Handel und ihre Lobbyverbände bemühen sich zur Zeit intensiv, eine gesetzliche Regulierung von RFID abzuwehren, indem sie sogenannte „Selbstverpflichtungserklärungen“ der Wirtschaft propagieren. Diese sollten jedoch zutreffender „unverbindliche Absichtserklärungen“ genannt werden. Warum Firmen, die stets beteuern, nichts Böses mit den gewonnenen Daten machen zu wollen, Angst vor einer gesetzlichen Regulierung haben, leuchtet nicht ein. Denn eine gesetzliche Regulierung würde die „good guys“, also die Firmen, die die Privatsphäre der Bürger tatsächlich achten, schützen – sowohl vor der böswilligen Konkurrenz als auch im Zweifelsfall – wie oben dargelegt – vor ihren eigenen Aktionären.

Wenn einige Firmen meinen, sie könnten die RFID-Einführung wie geplant durchziehen und müssten nun – angesichts der wachsenden Abneigung der Öffentlichkeit gegen die Allgegenwart von Schnüffelchips – lediglich etwas mehr in Lobbyarbeit, Marketing und Public Relations investieren als geplant, um kritische Stimmen platt zu machen – dann unterliegen sie einem gefährlichen Irrtum.

Laut einer Studie der Humboldt-Universität Berlin wollten 73,4 % der Testpersonen, die einen neutralen Informationsfilm über RFID-Funkchips gezeigt bekommen hatten und dann verschiedene Optionen angeboten bekamen, auf keinen Fall einen „lebenden“ RFID-Chip auf ihren Waren haben, die sie aus dem Supermarkt tragen. Die Studie 7 wurde im Auftrag der Metro Group erstellt und ist damit unverdächtig, einem Wunschdenken von Datenschützern zu folgen. 73,4 % ist übrigens der Durchschnittswert, die Ablehnung der Schnüffelchips wächst noch mit steigendem Bildungsniveau.

Noch suchen Industrie und Handel verzweifelt nach einem neuen Rezept, um RFID den Verbraucher/innen schmackhaft zu machen – es gibt schlicht keine Anwendung von RFID, die tatsächlich Nutzwert für die Kunden (und nicht nur für den Handel) hätte. Der sogenannte „intelligente“ Kühlschrank, der automatisch eine Pizza Tonno nachbestellt, sobald ich eine aus dem Gefrierfach genommen habe, muss schon seit 10 Jahren als Innovationsalibi für dies und jenes herhalten. Und kein Mensch will ihn haben.

Im Bereich RFID könnte in der Tat ein Verbraucherboykott drohen. Und es spricht einiges dafür, dass die Verwirklichung eines effektiven Datenschutzes langfristig auch im Sinne der Wirtschaft ist. Die ökonomische Argumentation sollte die bürgerrechtliche jedoch keinesfalls ersetzen.

Akzeptanz-Studien können nicht das Maß der Dinge sein – denn Bürgerrechte sind keine Handelsware, auch wenn das im Tausch gebotene Linsengericht ein bisschen reichhaltiger werden sollte.

Die Zeiten ändern sich – aber nicht von selbst:

You have zero privacy anyway – get over it.

(Scott McNealy, Chef von Sun Microsystems, 1999)

Only the Beginning: The movement to respecting privacy is just getting started. We expect to see more public debate, legislative reforms, and business consequences in the years to come. Smart companies are recognizing the need to change their business practices and (. . . ) to design and implement sound privacy policies.

(Sun Microsystems Newsletter für IT-Professionals, 2004)

1999 bügelt der Geschäftsführer von Sun noch alle Datenschutzbedenken zu einem ihrer Produkte ab „Privatsphäre gibt es sowieso nicht mehr – vergessen Sie's.“.

Der Sun-Newsletter fünf Jahre später hört sich ganz anders an: „IT ohne Privacy wird sich in Zukunft nicht mehr verkaufen lassen. Fragen Sie die Experten von Sun.“ Kompliment: Elegante 180-Grad-Wende.

Derweil ist Scott McNealys saloppes „Privatsphäre gibt es sowieso nicht mehr“ immer noch der Mainstream-Diskurs. Der Verlust der informationellen Selbstbestimmung wird oft als quasi naturgesetzliche Begleiterscheinung des technischen Fortschritts – insbesondere der Digitalisierung und der Vernetzung – dargestellt, an der man nichts ändern kann.

Wiederstand ist nicht zwecklos. Jetzt Mitglied werden.

Wer so denkt, gibt Gestaltungsmacht auf. Wer so argumentiert, will, dass andere Gestaltungsmacht aufgeben. („Widerstand ist zwecklos!“)

Noch ein Zitat:

Es kommt einfach darauf an, was man will, man muß sich entscheiden: Alle Menschen überall und miteinander vernetzt, global offene Kommunikationskanäle, Überwachung, usw. – und dann aber noch Privatsphäre erhalten, wie wir sie gewohnt sind – das geht nicht!

(Zukunftsforscher Jeremy Rifkin im aspekte-Beitrag zum Film „Minority Report“, ZDF, 26. September 2002)

Sehen wir es als eine interessante Parallele zum Umweltschutz: Jahrzehntelang wurde Umweltverschmutzung als unausweichliche Nebenwirkung der Industrialisierung akzeptiert. Wer Vergiftung von Boden, Luft und Wasser durch die Industrie kritisierte, wurde geraten, doch gleich „zurück auf die Bäume zu gehen“. Der Arbeit einer Vielzahl von Umweltschutzinitiativen ist es zu verdanken, dass sich diese Einstellung geändert hat. Umweltschutz wird mittlerweile als Sicherung der Lebensgrundlagen auf diesem Planeten begriffen; er ist in vielen Ländern im Bewusstsein der Bevölkerung verankert und in vielfältiger Form in die Agenda von Politik, Verbänden und auch der Wirtschaft eingezogen. Eine ähnliche Bewusstseinsänderung ist für informationelle Selbstbestimmung gerade im Fluss.

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Erste Erfolge sind da, aber es ist noch viel zu tun. Das Wichtigste jetzt: Das Bewusstsein für das Problem schärfen und möglichst vielen Menschen vermitteln, dass sie ein Erstgeburtsrecht besitzen, das durch keine noch so leckere Linsensuppe aufgewogen werden kann.


  1. Linsengericht bezeichnet im übertragenen Sinne eine momentan verlockende, in Wahrheit aber geringwertige Gabe im Tausch für ein sehr viel höherwertiges Gut. Hintergrund dieser Bedeutung ist die biblische Erzählung (1. Buch Mose 25:29-34), derzufolge Jakob, der jüngere Sohn Isaaks, seinem älteren Bruder Esau dessen Erstgeburtsrecht angeblich gegen einen Teller Linsen abkaufte, als Esau von der Feldarbeit erschöpft heimkehrte. ↩︎

  2. „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist./ Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat./ Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Gewerkschafter./ Als sie die Juden holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Jude. / Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestierte.“ ↩︎

  3. Friedrich Merz, 2. Juli 2001 bei einer Wahlkampfveranstaltung der CDU auf dem Alexanderplatz in Berlin. (wörtliches Zitat) ↩︎

  4. Damit wurde zum Beispiel von Vodafone argumentiert. Zur Erinnerung: Vodafone will Buchverluste aus der Mannesmann-Übernahme geltend machen, nachdem die Aktie durch die Inszenierung einer Übernahmeschlacht künstlich hochgepusht worden war. Das bedeutet eine Steuerersparnis bis zu 25 Milliarden Euro – mit anderen Worten, Vodafone bezahlt auf Jahre hinaus kaum noch Steuern. Der Unternehmenssprecher argumentiert, dass sie so handeln müssten, da sie sonst von den eigenen Aktionären verklagt werden könnten. (Beitrag von attac und WDR.) Der Ökonom und Nobelpreisträger Milton Friedman vertritt die Ansicht, dass börsennotierte Konzerne ausschließlich den Interessen ihrer Aktionäre verpflichtet seien, deren Gewinn sie mehren müssten, und dürften deshalb nicht für das Allgemeinwohl tätig werden. ↩︎

  5. So geschehen in der Schweiz im August 2004: Nach einem Brandanschlag ordnete das Obergericht des Kantons Bern eine Rasterfandung mit Migros Cumulus Daten an. Im Umfeld der Brandstiftung fanden die Ermittler ein Werkzeug, das bei der Schweizer Supermarktkette Migros gekauft worden war. Die Untersuchungsbehörden verlangten von der Migros eine Liste aller Cumulus-Kunden, die dieses Werkzeug gekauft hatten. Damit hofften sie, dem Täter auf die Spur zu kommen. Die Migros weigerte sich zunächst aus Datenschutzgründen, diese Liste mit Daten von 113 Cumulus-Kunden herauszugeben. Daraufhin zwang das Berner Obergericht die Migros zur Herausgabe. Ergebnis: Der Brandstifter konnte bis heute nicht eruiert werden, sagt der Sprecher der Kantonspolizei Bern. ↩︎

  6. Zum Beispiel Auswertung der Mautbrücken für Kfz-Bewegungsprofile. Toll Collect ist sehr bemüht, zu versichern, dass sie keine Daten an Ermittlungsbehörden weitergeben („Das sind unsere Kameras, nicht die der Polizei.“). Doch eine kleine Gesetzesänderung könnte sie genau dazu zwingen. Die technische Struktur ist schon vorhanden. ↩︎

  7. Günther, Oliver, Spiekermann, Sarah: „RFID and Perceived Control – The User View“ ↩︎