Veröffentlichung

Rechtsgutachten zum Digitalzwang

Das Netzwerk Datenschutzexpertise hat sein Gutachten für ein Grundrecht auf ein Leben ohne Digitalzwang veröffentlicht – ein wichtiger Schritt für unsere Kampagne.
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Symbolbild: Rechtsgutachten – Grafik eines Papierstapfels mit der Aufschrift „Rechtsgutachten“.

Ein Gutachten sagt: Es gibt ein Recht auf ein analoges Leben!

Eindeutiges juristisches Gutachten stärkt Digitalcourage im Kampf um eine Grundgesetzänderung

Menschen, die auf bestimmte Dienstleistungen im Alltag angewiesen sind, haben einen Anspruch darauf, diese auch analog nutzen zu können. Das belegt ein juristisches Gutachten, das das Netzwerk Datenschutzexpertise auf Initiative von Digitalcourage am 11.12.2024 vorgelegt hat. Es sei „geboten, ein umfassendes und übergeordnetes ‚Recht auf analoge Teilhabe‘ normativ festzuschreiben“, schlussfolgert das Gutachten.

Mit dem Thema Digitalzwang beschäftigen wir uns schon lange. Aktuell kann eine Petition unterzeichnet werden, mit der wir erreichen wollen, dass Artikel 3 des Grundgesetzes ergänzt wird. Damit soll festgelegt werden, dass niemand benachteiligt werden darf, nur weil er oder sie nicht permanent digital unterwegs ist.

Das ausführliche Gutachten des Netzwerks Datenschutzexpertise liefert fundierte Argumente für eine Änderung des Grundgesetzes. Dabei zeigt es zunächst auf, dass mitnichten alle so digital unterwegs sind, wie immer angenommen wird: Über drei Millionen Menschen über 16 Jahren in Deutschland waren noch nie im Internet! Auch von den anderen stünden viele dem Übermaß der Digitalisierung zweifelnd gegenüber und sprächen sich für analoge Alternativen aus. Anschließend werden im Gutachten aktuelle Beispiele von Digitalzwang aufgeführt. Das betrifft auch die öffentliche Verwaltung: Zum Beispiel wurde 2023 die Energiepreispauschale von 200 € für Studierende und Fachschüler.innen nur an diejenigen ausgezahlt, die ein Nutzerkonto bei BundID eingerichtet hatten. Die Corona-Künstlerförderung konnte in Bayern nur digital beantragt werden. Bei privaten Anbietern kommt Digitalzwang aber deutlich häufiger vor: Von Banken, die Papierüberweisungen entweder gar nicht mehr annehmen oder viel Geld dafür verlangen über Arzttermine, die sich nur noch über das Internet vereinbaren lassen bis hin zu den Packstationen, die das Paket nur noch bei Nutzung der App freigeben. In unserem Themenschwerpunkt Digitalzwang, bei den BigBrotherAwards und in unserem Jahrbuch haben wir schon oft auf diese Fälle hingewiesen.

Das juristische Gutachten zeigt auf: Es gibt bereits eine Reihe von gesetzlichen Vorschriften, die regeln, wann hoheitliche Aufgaben rein digital erfüllt werden können und wann eine Möglichkeit zur analogen Nutzung bereitgestellt werden muss. Zum Beispiel gibt es Ausnahmen von der rein elektronischen Übermittlung der Einkommensteuererklärung. Wer ein Auto an der Straße gebührenpflichtig parkt, darf die Parkscheibe benutzen, wenn keine Barzahlung vorgesehen ist und die parkende Person nicht über die angebotenen elektronischen Zahlungsmittel verfügt. Dies sind aber nur Einzelregelungen für besondere Fälle – und für private Dienstleistungen gibt es keine klaren gesetzlichen Vorgaben. Wer also in ein privates Parkhaus fährt, muss akzeptieren, dass unter Umständen nur Kreditkarten genommen werden.

Das komplette Rechtsgutachten vom Netzwerk Datenschutzexpertise können Sie hier lesen oder als PDF herunterladen (extern).

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Obwohl Grundrechte in erster Linie das Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und dem Staat regeln, haben sie auch Auswirkungen auf privatrechtliche Beziehungen. So legt das Gutachten dar: Wenn ein Vertragspartner so viel Gewicht hat, dass er den Vertragsinhalt einseitig bestimmen kann, ist es Aufgabe des Rechts, hier für Ausgewogenheit zu sorgen. Wenn also die Vertragsbedingungen für die weniger mächtige Seite unzumutbar sind, diese aber auf den Gegenstand des Vertrags angewiesen ist, gibt es eine staatliche Schutzpflicht, eine zumutbare Alternative zu garantieren. Und jetzt mal ehrlich: Das Reisen mit der Bahn ist fast unumgänglich, wenn man einigermaßen umweltfreundlich unterwegs sein möchte. Und heutzutage ohne Bankkonto durchs Leben zu kommen, ist nahezu unmöglich.

Es kann sogar sein, dass die Digitalisierung gegen die Würde des Menschen und damit gegen Artikel 1 des Grundgesetzes verstößt. Sollte eine totale Digitalisierung des Alltags erfolgen, so schreiben es die Autor.innen des Gutachtens, überschreitet dies die Schwelle des Würdeverstoßes: „Der Mensch darf nicht zum ausschließlichen Objekt der Technik werden“. Zugleich kann es einen Verstoß gegen Artikel 2, die allgemeine Handlungsfreiheit, bedeuten. Dabei spricht das Netzwerk Datenschutzexpertise dem Staat nicht ab, seine Verwaltung effektiv und wirtschaftlich zu organisieren – und das ist heute wohl nur digital möglich. Im Gutachten wird das Beispiel Frankreich angeführt, wo 2023 ein Gesetz über öffentliche Dienste verabschiedet wurde. Dieses Gesetz sagt: „Niemand darf gezwungen werden, in seinen Beziehungen mit der Verwaltung auf entmaterialisierte Verfahren zurückzugreifen.“ Es gibt also das Recht, mit Menschen zu interagieren. „Ein sinnvolles Nebeneinander von Digitalisierung und analogen Alternativangeboten ist weder fortschrittshemmend noch unzumutbar“, lautet eine der Schlussfolgerungen im Gutachten des Netzwerks Datenschutzexpertise.

Aus den schon genannten Artikeln 1 und 2 des Grundgesetzes wird das allgemeine Persönlichkeitsrecht abgeleitet, das die freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt. Das beinhaltet auch die Antwort, die Herman Melville durch seine Figur Bartleby verewigt hat: „I would prefer not to“. In diesem Fall: Ich ziehe es vor, nicht das Internet zu nutzen. Wesentlich gravierender ist aber eine bestimmte Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Alle haben das Recht, selbst zu bestimmen, wer was wann und aus welcher Anlass über sie weiß! Wer aber gezwungen wird, einen bestimmten digitalen Dienst zu nutzen, kann dies nicht mehr bestimmen. Gerade die „Navigator“-App der Deutschen Bahn gibt selbst in der datenschutzfreundlichsten Einstellung so viele Daten weiter, dass die Bahn unter anderem dafür einen BigBrotherAward 2024 erhielt.

Artikel 3 des Grundgesetzes garantiert das Recht auf Gleichbehandlung in allen Lebensbereichen. Wird also jemand von einer digital erbrachten staatlichen Leistung ausgeschlossen, kann sich hieraus das Recht auf eine alternative analoge Leistung ableiten, stellt das Gutachten fest. Denn: Das ist Diskriminierung! Zwar liegt hier keine direkte Diskriminierung wegen des Alters, einer Behinderung oder Armut vor, aber wenn man nicht mehr in der Lage ist, ein kompliziertes Gerät zu bedienen, die Bildschirmanzeige nicht sehen kann, oder wenn die Kosten für Gerät und Anschluss nicht angemessen im Regelbedarf berücksichtigt werden, findet eine mittelbare Diskriminierung statt.

Aus all diesen Beobachtungen folgert das Gutachten, dass „ein Recht auf analoge Teilhabe bzw. ein Schutz vor Digitalzwang schon heute aus den Grundrechten abzuleiten ist.“ Der Anspruch auf eine analoge Alternative könne – nach Abwägung der jeweiligen Interessen – sowohl gegenüber der öffentlichen Hand als auch gegenüber privaten Anbietern geltend gemacht werden. Weil sich zeigt, dass Internet, Smartphones, Laptops und Apps und ihre Nutzung immer mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden, würde ein Grundrecht das Einklagen der analogen Teilhabe deutlich vereinfachen.

Für die Formulierung des neuen Grundrechts weist das Gutachten auf zwei Vorschläge hin. Die Initiative für eine Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union beschreibt in Artikel 3 (Gleichheit) ihres Vorschlags ein Recht, dass Menschen nicht durch automatisierte Verfahren an der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden dürfen. Der Publizist und Jurist Heribert Prantl schlug vor, Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes um folgenden Satz zu ergänzen: „Die Grund- und Daseinsvorsorge für einen Menschen darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass er digitale Angebote nutzt.“