Definition

Was ist Digitalzwang?

Digital ist spitze! Aber nur wenn wir die Wahl haben und nicht dazu gezwungen werden. Aber was genau meinen wir mit Digitalzwang? Wir haben uns an eine Definition gewagt.

Am 1. Juni 2021 ging unser Digitalzwangmelder an den Start. Bewusst hatten wir damals den Begriff ohne weitere Definition verwendet. Wir wollten zunächst herausfinden, was die Menschen als Digitalzwang empfinden. Knapp zwei Jahre und etwa 500 Meldungen später wagen wir eine erste Definition des Begriffs.

Begriffe

Digitalisierung: Laut Wikipedia: Unter Digitalisierung (von lateinisch digitus ‚Finger‘ und englisch digit ‚Ziffer‘) versteht man die Umwandlung von analogen, d. h. stufenlos darstellbaren Werten bzw. das Erfassen von Informationen über physische Objekte in Formate, welche sich zu einer Verarbeitung oder Speicherung in digitaltechnischen Systemen eignen. Praktisch: Anstelle Stift und Papier werden Rechner, Tablets oder Mobiltelefone verwendet.
Zwang: Wenn es keine analoge oder datenschutzfreundliche Alternative zu dem angebotenen Prozess gibt. Zusätzlich zu betrachten: Wenn die Alternative sehr drastische (zu definierende) Nachteile bietet. Finanziell, zeitlich, …

Annahmen

  1. Digitalisierungsprozesse sind per Definition besser für die Verarbeitung mit modernen Computern geeignet als analoge und haben daher Vorteile.
  2. Digitalisierung ist anfälliger für Datenschutz- und Sicherheitsmissbrauch als analoge Prozesse. Everything smart is vulnerable.

Digitalzwangmelder

Digitalcourage, CC-BY 4.0
Haben Sie Digitalzwang erlebt? Erzählen Sie uns davon!

Vier Dimensionen von Digitalzwang

Digitalzwang lässt sich in vier Ebenen einteilen.

  1. Digitalisierungszwang: Das bedeutet, Sie müssen in der Lage sein, am digitalen Prozess teilzunehmen. Es gibt keine analoge Alternative mehr. Ältere Menschen oder teilweise eingeschränkte Menschen, sowie alle, die sich aus anderen Gründen aus digitalen Prozessen heraushalten (Betroffene von digitaler Gewalt, eigene Lebensentscheidung), werden somit ausgeschlossen. Laut statistischem Bundesamt sind das aktuell mehr als 3,4 Millionen Menschen. Häufig kann man sich einer Digitalisierung auch gar nicht mehr entziehen, z.B. wenn ein Brief an die Krankenkasse über ein Scanzentrum gelenkt wird oder Konzertkarten nicht mehr über Theaterkassen erworben werden können. Besonders ärgerlich ist Digitalisierungszwang, wenn er mit einer Verschlechterung des Service einhergeht. Beispielsweise wenn Filialen mit persönlicher Beratung durch Hotlines mit unzureichender Kompetenz und langen Wartezeiten oder sogar Extrakosten (oder durch Chatbots) ersetzt werden. Besonders wenn man in schlechte technische Lösungen gezwungen wird, bräuchte es guten Support. Meist passiert aber das genaue Gegenteil.

  2. App-Zwang: Das bedeutet, dass Sie gezwungen werden, eine App auf einem Handy zu nutzen, was natürlich impliziert, dass Sie ein Handy haben, auf dem die App läuft. Verlangt die App ein neues Gerät, einen bestimmten App-Store oder eine neue Betriebssystemversion, dann müssen Sie nachziehen. Bei App-Zwang gibt es keine Möglichkeit, analog oder per Standard-Browser an dieser Leistung teilzunehmen.

  3. Kontozwang / Accountzwang: Das bedeutet, dass Sie den Dienst nur nutzen können, wenn Sie beim Anbieter des Dienstes ein Konto anlegen. Für dieses Konto müssen Sie oftmals sehr viele Daten, auch persönliche Daten, abgeben, ansonsten sind Sie ausgeschlossen. Das betrifft sehr viele direkte Dienste (Jobbörsen und Bewerbungsportale, DHL-Packstation, Onlinezeitungen, Ticketkauf bei der DB etc.) aber auch indirekt noch viel mehr, nämlich dann, wenn eine App nur über den Google-Play-Store / Apple-Store verfügbar ist (Taxi-App, Banking-Apps etc.), da dies einen Account bei der jeweiligen Firma voraussetzt. Während Apple es nicht erlaubt, Apps alternativ zu beziehen, gibt es diese Möglichkeit bei Android, aber sie wird von den Anbietern nur sehr selten genutzt. Während Apple einen direkten Accountzwang ausübt (ohne Account geht das Smartphone nicht), geschieht das bei einer Taxi-App nur mittelbar, weil man an diese ohne Google- oder Apple-Account gar nicht herankommt.

  4. Datenabgabezwang: Das bedeutet, dass der Dienstleister den Dienst nur dann erbringt, wenn Sie einwilligen, Daten abzugeben (getrackt zu werden). Mehr und mehr Websites und Diensteanbieter verbinden den Service bewusst oder unbewusst mit Tracking-Anbietern. Das sind oftmals Google-Dienste. Blockieren Sie diese im Browser oder auf dem Mobilgerät mit geeigneten Werkzeugen, ist der Service nicht mehr nutzbar. So gibt es u.a. Websites, die Sie nur dann aufrufen können, wenn Sie dem Cookiebanner zustimmen. Sie können nicht ablehnen. Oder wenn Sie ablehnen, kommt eine Meldung, dass der Dienst nicht ohne Zustimmung erbracht werden kann.

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Abgrenzung – Was ist Digitalzwang und was nicht?

Wenn ein bestimmter Dienst aus technischen Gründen nur in dieser Form angeboten werden kann, kann man nicht von Digitalzwang sprechen. Beispielsweise ist für Onlinebanking natürlich ein Account (Konto bei der Bank) nötig, nicht aber ein Google-Account. Daher kann man nur im zweiten Fall von Digitalzwang sprechen. So lange ein analoger Zugang zum Bankkonto weiter (und gleichberechtigt!) möglich ist, kann hier weder von Accountzwang noch von Digitalisierungszwang die Rede sein. Die Grenzen können dabei aber fließend sein.

Digitalzwang liegt vor, wenn …

  • … es sich nicht um einen Extra-Service handelt und ein Verzicht auf diese Leistung die Teilhabe am öffentlichen Leben einschränkt, also eine Diskriminierung entsteht, insbesondere bei staatlichen Leistungen

  • … es keine analoge Alternative gibt, obwohl das technisch möglich wäre

  • … die analoge Alternative durch z.B. höhere Kosten oder größeren Aufwand so unattraktiv gemacht wird, dass sie faktisch nicht in Frage kommt

Das Smartphone ist nicht „marktüblich“

Zunehmend wird damit argumentiert, dass Smartphones und die gängigen App-Stores „marktüblich“ seien und deshalb auch kein Problem darstellten. Das verkennt, dass es sehr viele Menschen gibt, die aus diversen Gründen kein Smartphone besitzen. Manche ihrer Gründe, wie das Alter, werden vielleicht in Zukunft abnehmen. Doch diverse Gründe könnten sogar noch mehr Gewicht erhalten. Das sind etwa finanzielle Faktoren oder der Umstand, dass sich Betroffene von digitaler Gewalt (vorübergehend oder dauerhaft) von der Technologie abwenden, oder die bewusste Entscheidung, nicht permanent einen Taschenspion mit sich zu führen. Auch Smartphones mit alternativen Betriebssystemen sind nicht unüblich und meist nicht mit kommerziellen Apps kompatibel. Letztlich hebelt die Ausrede, man arbeite eben nur mit den „marktüblichen“ App-Stores, auch Innovation und Wettbewerb aus.

Beispiele

DHL-Packstationen
So lange die Päckchen mich auch auf anderem Weg erreichen, kann DHL die Packstationen so konfigurieren, dass sie nur noch mit App funktionieren. Das ist zwar kritisierbar, aber noch kein Digitalzwang, wenn es sich um einen Extra-Service handelt. Sobald aber auch Päckchen von Menschen in Packstationen gelegt werden, die sich nicht für diesen Extraservice angemeldet haben, oder die Abholung von Paketen durch massive Filialschließungen unzumutbar werden, ist es Digitalzwang.

49-€-Ticket
Wenn das 49-€-Ticket nur per Online-Buchung oder sogar nur via App angeboten wird, handelt es sich um Digitalzwang. Dann können Menschen zwar auch ohne Smartphone Bus und Bahn fahren, sie sind aber gegenüber Menschen mit Smartphone deutlich im Nachteil. Dass der öffentliche Nahverkehr zur Grundversorgung gehört, erschwert diesen Umstand. Wenn aber eine zumutbare analoge Buchung angeboten wird, etwa im Kundencenter des lokalen Unternehmens mit Ausgabe einer anonymen Plastikkarte, kann man nicht mehr von Digitalzwang sprechen.

kostenpflichtige Papierüberweisungen
Viele Banken nehmen Papierüberweisungen nur noch gegen eine Extragebühr an. Ob es sich dabei um Digitalzwang handelt, hängt von der konkreten Situation ab. Ließe sich argumentieren, dass die Kontoführungsgebühren besonders niedrig sind, weil man sich damit einverstanden zeigt, ausschließlich Onlinebuchungen vorzunehmen, stellt das nicht zwangsläufig Digitalzwang dar. Sind die Zusatzgebühren aber unverhältnismäßig hoch, vielleicht schon.

Hotelkette Melia
Wenn Sie in der von Melia bereitgestellten App buchen, erhalten Sie 5% Rabatt und mehr Punkte in deren Rewards-System. Die App trackt auf allen Ebenen: Facebook, Google, marketingcloudapis, igodigital, app-measurement. Ein Blockieren dieser Dienste führt zur Nichtnutzbarkeit der App. Buchungen und Reservierungen per Telefon bleiben möglich, aber ohne Rabatt. Wenn Sie jeden Abend einen Tisch reservieren und von 50 € Kosten pro Abend ausgehen, sind das Mehrkosten von 35 € bei einem zweiwöchigen Urlaub. In Bezug auf Digitalzwang befinden wir uns hier im Graubereich. Ab welchem Mehrbetrag man von einer unzumutbaren Diskriminierung sprechen kann, ist kontextabhängig. Bei Luxusausgaben oder sehr hohen Geldbeträgen könnte die Toleranzschwelle höher sein.

Thermomix
Der Thermomix Version 6 kommt mit 256 eingebauten Rezepten und fragt beim Installieren nach einer WLAN-Verbindung. Die Rezepte werden mit der Cookidoo-App verwaltet. Damit lassen sich auch Einkaufslisten erstellen. Weitere Rezepte können via App in den Thermomix gespielt werden, so dass das Kochen stark vereinfacht wird. Dabei werden aber viele Daten abgegeben. Der einzige Weg ohne Konto und App ist, neue Rezepte und Einkaufslisten selbst zu recherchieren und die Schritte beim Kochen manuell auszuführen. Die am Anfang vorhandenen Rezepte stellen zwar einen Basisservice dar, doch der hohe Preis des Thermomix schürt höhere Erwartungen an das Gerät. Das Nachladen von Rezepten ist deshalb kein Zusatzservice. Wenn dies nur mit App und Netzanbindung möglich ist und sich der Kauf eines Thermomix sonst nicht lohnt, kann man durchaus von Digitalzwang sprechen.

Spielekonsolen
Die gängigen Spielekonsolen bieten viele beliebte Funktionen nur unter Accountzwang an. Sofern man diese Optionen als Zusatz ansehen kann und die Grundfunktionen auch ohne Account uneingeschränkt zur Verfügung stehen, ist dies eher kein Digitalzwang. Zumal ein Account für manche dieser Funktionen wohl notwendig sein dürfte, z.B. wenn man online gegeneinander spielen oder sich Nachrichten schicken möchte. Sofern aber ganze Spiele nur noch per Download-Code angeboten werden und eine Spielekonsole ohne Netzanbindung ihren Preis nicht mehr wert ist, haben wir den Bereich von Digitalzwang erreicht.

Ubiquiti-Router
Ubiquiti bietet Internet-Router an. Der Hersteller verwendet Server in der Amazon Cloud. Und seit kurzer Zeit werden Kunden dazu genötigt, wenn sie ihr (neues) Gerät einrichten oder ein bestehendes Gerät aktualisieren, Konten in der Cloud anzulegen. Weil das auch anders realisierbar wäre, ist dies Digitalzwang. So lange es bei der Konkurrenz noch Alternativen gibt, fällt dieser vielleicht nicht ins Gewicht. Doch der Markt entwickelt sich schnell, und die Verantwortung zum Anbieten von Alternativen darf nicht bei der Konkurrenz gesucht werden.

Der Bielefelder Stadtwerke Club
Wer bei den Bielefelder Stadtwerken Kund.in ist, kann Mitglied im „Stadtwerke Club“ werden und erhält dann besonders vergünstigte Tarife, z.B. Dauerkarten. Allerdings kann man nur online Mitglied werden, am liebsten per App. Ohne Tracking zu akzeptieren, kann die entsprechende Internetseite erst gar nicht geladen werden. Weil es sich um wesentliche Ermäßigungen handelt, die nicht mehr mit Einsparungen durch Digitalisierung zu rechtfertigen sind, und weil das Angebot einer analogen Alternative sehr einfach realisierbar wäre, kann man hier klar von Digitalzwang (Digitalisierungszwang und Datenabgabezwang) sprechen.

Essensausgabe in der Mensa
Wenn die Essensausgabe ohne Mensakarte oder Pfandsystem so lange dauert, dass die Mittagspause nicht ausreicht, ist der zusätzliche Aufwand für die analoge Alternative unzumutbar. Es handelt sich dann um Digitalzwang, auch wenn theoretisch eine Alternative angeboten wird.

Zwei Kinder sitzen auf einer Holzkiste. Von der Schwarzweißaufnahme und der Fotoqualität lässt sich herleiten, dass es ein älteres Bild ist.Internet Archive Book Images
Manchmal möchte man auch einfach mal ganz analog auf einer Holzkiste sitzen.