Endhaltestelle Omnibus – Alle aussteigen bitte!
Liebe Leserinnen und Leser,
während wir in Deutschland noch auf den „Herbst der Reformen“ warten, wünschen wir uns, dass die EU mal innehält. Denn diese hat anscheinend den „Herbst der Deformierungen“ ausgerufen und greift gerade ein Digitalgesetz nach dem anderen an. Nachdem wir uns gerade noch Sorgen um DMA und DSA gemacht haben, sägt die EU-Kommission mit den „Omnibus-Paketen“ an der DSGVO und startet damit den nächsten Frontalangriff auf unsere digitalen Grundrechte. Dabei erwarten wir von der EU gerade genau das Gegenteil: Angesichts der vielen besorgniserregenden Geschehnisse unter anderem in den USA, in Russland, der Türkei, Ungarn und der Slowakei müsste die EU gerade jetzt unsere digitalen Rechte verteidigen und stärken!
Dass es sich lohnt, hartnäckig zu bleiben, zeigt der (Teil-)Erfolg gegen die Chatkontrolle: Die dänische Ratspräsidentschaft hat sich überraschend von den Plänen für eine verpflichtende Chatkontrolle verabschiedet. Das zeigt, was gemeinsamer Druck bewirken kann. Petitionen mit mehreren hunderttausend Unterschriften, unzählige Anrufe bei Abgeordneten und viele Stimmen aus der Zivilgesellschaft haben Wirkung gezeigt. Gemeinsam haben wir verhindert, dass vertrauliche Kommunikation in der EU abgeschafft wird.
Doch auch in Deutschland wird kräftig an den Grundrechten gesägt: In Berlin wird das Comeback der Vorratsdatenspeicherung vorbereitet und Bundesinnenminister Alexander Dobrindt plant, Palantir-Software bundesweit einzuführen, Nordrhein-Westfalen hat die Polizeigesetze massiv verschärft… Es gibt so viel zu besprechen, dass wir nicht alles in einem Newsletter unterbringen.
Zum Glück gibt es auch gute Nachrichten: Es gibt überall Menschen, die sich den autoritären Bestrebungen entgegen stellen. Und Digitalcourage ist mittendrin.
Mit besten Grüßen aus Bielefeld,
Max Hampel, Jonas Grill, Malte Nürnberger, Tobias Oubaid, Leena Simon und Rena Tangens
Inhalt
1 Überraschende Wende bei der Chatkontrolle
Überraschend hat sich die dänische Ratspräsidentschaft von den Plänen für eine verpflichtende Chatkontrolle verabschiedet. Noch im Oktober schien eine Abstimmung über das Vorhaben unmittelbar bevorzustehen – nun ist klar: Die EU-Staaten konnten sich nicht auf eine gemeinsame Position einigen, und der Entwurf wird in dieser Form wohl nicht weiterverfolgt.
Der Schritt ist ein Erfolg zivilgesellschaftlichen Drucks. Zehntausende Mails, Anrufe und Gespräche mit Abgeordneten, eine Petition mit 363.493 Unterschriften und die vielen Stimmen aus der digitalen Zivilgesellschaft haben Wirkung gezeigt. Der politische Preis für eine Chatkontrolle ist zu hoch geworden.
Doch Entwarnung gibt es nicht: Im Raum steht nun ein sogenannter Kompromissvorschlag, der die bisher schon praktizierte „freiwillige“ Chatkontrolle dauerhaft erlauben würde. Anbieter könnten also weiter private Nachrichten ihrer Nutzer.innen durchsuchen – nur eben ohne Pflicht. Auch das halten wir für falsch. Denn ob freiwillig oder verpflichtend: Chatkontrolle ist immer ein Eingriff in die Vertraulichkeit der Kommunikation und verletzt unser Grundrecht auf Privatsphäre. Wir lehnen deshalb auch einen Kompromiss ohne verpflichtende Chatkontrolle ab, wenn er diese Praxis zementiert. Die Abschaffung jeglicher Chatüberwachung bleibt unser Ziel.
Mehr zum Thema auf: https://chat-kontrolle.eu/
2 Offener Brief gegen die „Digital Omnibus“-Pakete
Bereits Anfang des Jahres hatte die EU-Kommission angekündigt, Digitalgesetze wie die DSGVO und den AI-Act auf den Prüfstand zu stellen. Man brauche Vereinfachung, hieß es. Die Kommission beteuerte, dass die Gesetze ausschließlich „kosmetischen Veränderungen“ unterzogen würden. Wissenschaft und Zivilgesellschaft ahnten schon damals nichts Gutes. Heute, am 19. November, stellt die Kommission nun die beiden „Digital Omnibus“-Pakete vor.
Die Entwürfe wurden bereits geleakt und zeigen: Die Sorge war berechtigt. Die Änderungspläne sind der größte Angriff auf die digitalen Grundrechte in der Geschichte der Europäischen Union. Sie geben unsere sensiblen personenbezogenen Daten zum Abschuss für KI-Unternehmen frei, schwächen Verbraucher.innenrechte und übertragen der EU-Kommission weitreichende neue Befugnisse. Diese will künftig selbst festlegen, wie riskant eine KI eingestuft wird, und macht sich damit vom Bock zum Gärtner. Denn die Kommission verhandelt parallel mit der Trump-Administration und großen Tech-Konzernen und öffnet damit Tür und Tor für politisch motiviertes Herunterstufen.
Anscheinend fürchtet die Kommission Gegenwind: Im Schnellverfahren und ohne ernsthafte Konsultationen der Zivilgesellschaft möchte die Kommission die Rechtsakte durch Rat und Parlament winken.
Gemeinsam mit 126 weiteren Organisationen fordern wir in einem offenen Brief, den EDRi (European Digital Rights) verfasst hat:
- Finger weg von DSGVO, ePrivacy, AI Act und anderen Gesetzen, die unsere digitalen Rechte schützen!
- Bestehende EU-Datenschutzgesetze respektieren und durchsetzen!
- Zivilgesellschaft einbinden!
Diese Papiere sind bisher nur ein Vorstoß der Kommission. Noch können sie im Parlament und Rat verändert werden. Wir haben noch Zeit, doch wir müssen jetzt handeln.
Brief von EDRi (englisches Original):
https://edri.org/wp-content/uploads/2025/11/The-EU-must-uphold-hard-won-protections-for-digital-human-rights.pdf
Deutsche Übersetzung (danke an LobbyControl):
https://digitalcourage.de/blog/2025/offener-brief-digitaler-omnibus
3 DSA & DMA: Was tut die Digitalregulierung eigentlich für uns?
Dass jetzt die DSGVO als Geschenk an die KI-Unternehmen aufgebohrt werden soll, ist ein schlechtes Omen. Es ist nämlich kein Geheimnis, dass Donald Trump und seine Big-Tech-Freunde auch andere europäische Digitalgesetze abschaffen wollen. Zuletzt waren ja immer der Digital Markets Act (DMA) und der Digital Services Act (DSA) unter Beschuss. Da die meisten Menschen die Politik in Brüssel nicht so energisch verfolgen wie die in Berlin, ist vielleicht nicht allen klar, was diese ganzen Rechtsakte der EU überhaupt tun.
Während nun also tonnenweise Lobbyismus aus den USA kommt mit dem Ziel, EU-Regulierung abzuschaffen, denkt sich vielleicht die durchschnittliche Person: „DMA? Was ist das? Was geht es mich an, wenn der weg ist?“ Doch europäische Gesetzgebung tut mehr, als man zunächst denkt.
Wir wissen, dass diese Dinge manchmal sehr kompliziert sind. Auf unserem Blog ist nun ein Artikel erschienen, in dem wir beschreiben, was der DMA (Digital Markets Act) und der DSA (Digital Services Act) tun. Darin erklären wir, was davon konkret bei Ihnen ankommt, warum Big-Tech sich daran stört und warum die Europäische Union es wirklich nicht leicht bei der Regulierung hat:
https://digitalcourage.de/blog/2025/was-tut-deregulierung-fuer-uns
4 Digitalcourage als Sachverständige im NRW-Landtag
Am 30. Oktober waren Rena Tangens und Jonas Grill als Sachverständige zum Thema „Digitale Souveränität“ in den Landtag in Düsseldorf geladen. Das Thema könnte nicht relevanter sein: Microsoft schaltet das Mail-Konto des Chefanklägers vom Internationalen Gerichtshof ab, das durchdigitalisierte Dänemark fürchtet um den Abbruch seines Kommunikationsverkehrs, sollten sie sich Trumps imperialem Gebahren widersetzen, und in ganz Europa untergraben die US-Plattformen den politischen Diskurs. Die digitale Abhängigkeit macht uns gegenüber den USA erpressbar. Entweder tanzen wir nach Trumps autoritärer Pfeife – oder er schaltet Europa, Deutschland und auch Nordrhein-Westfalen die Software ab.
Die Landesregierung darf vor dieser Bedrohung nicht die Augen verschließen. In der Anhörung forderten wir deshalb einen sofortigen Wechsel auf europäische, offene Software. Ausreden darf es nicht mehr geben, die Alternativen sind schon längst da. Das zeigt das Land Schleswig-Holstein eindrucksvoll: Seine öffentliche Verwaltung benutzt Nextcloud statt Google Drive, LibreOffice statt Microsoft Office und OpenTalk statt Zoom. Auch Linux erprobte das Land bereits als Standardbetriebssystem. Wir haben auch den Abgeordneten direkt ins Gewissen geredet: Denn sie stehen jetzt in der Verantwortung, unsere Netzwerke zu demokratisieren. Deshalb muss jetzt das Fediverse gefördert werden.
Mit unseren Appellen stießen wir auf viel Resonanz: Nach der Anhörung gab es einen regelrechten Ansturm der Abgeordneten auf unsere mitgebrachten kurz&mündig-Büchlein und Flyer zum Fediverse, Linux und Digitalzwang, sodass wir am Ende feststellen mussten: Wir hatten zu wenige eingepackt. Dieses große Interesse an unseren Punkten freute uns natürlich sehr. Nur: Auf die vielen Worte müssen jetzt auch Taten aus Düsseldorf folgen!
Die Ausschusssitzung wurde übrigens aufgezeichnet:
https://www.landtag.nrw.de/home/mediathek/video.html?kid=13fe9b81-ca63-4f1c-8fc9-987c554413e6
5 Fediforschung beginnt mit Ihnen!
Das Fediverse ist groß, bunt und manchmal ein bisschen rätselhaft. Doch das sollten wir nicht als Nachteil betrachten, sondern als spannende Herausforderung. Deshalb haben wir ein kleines Mitmach-Abenteuer erstellt für alle, die das Fediverse besser verstehen wollen: Denn Neugier ist der Anfang von Erkenntnis und Wissenslücken bieten Gelegenheit, etwas Neues zu lernen. Wir müssen nur wieder Lust entwickeln, Technik selbst zu begreifen und uns damit digital selbst zu behaupten. So gewinnen wir die Freiheit und Mündigkeit zurück, die uns Big Tech permanent abtrainieren will.
Auf unserer Seite https://digitalcourage.de/fediforschung finden Sie kleine Aufgaben, Experimente und Beobachtungen, mit denen Sie das freie, dezentrale und wirklich soziale Netzwerk Schritt für Schritt erkunden können.
6 Rückschritt in der Landesverfassung: Jetzt doch mit Digitalzwang?
Bisher war die Verfassung Schleswig-Holsteins in einem Punkt wegweisend: Niemand darf diskriminiert werden, weil er oder sie keinen digitalen Zugang nutzen kann oder möchte. Genau dieser Schutz soll nun gestrichen werden. Diese Verfassungsänderung geht in die vollkommen falsche Richtung. Der Landtag will den bisherigen Artikel 14 Absatz 2 der Landesverfassung ändern und damit das Recht auf analogen Zugang zu Behörden und Gerichten streichen. Künftig soll nur noch der „digitale Zugang“ garantiert werden.
Damit würde Digitalzwang Verfassungsrang bekommen. Wer keinen Internetzugang hat oder Geräte oder Apps aus guten Gründen nicht nutzen möchte, könnte künftig von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden.
Die Änderung ist noch nicht beschlossen. Wenn Sie in Schleswig-Holstein wohnen, kontaktieren Sie Ihre Landtagsabgeordneten – freundlich, sachlich, bestimmt – und machen Sie klar, dass Sie sich dafür einsetzen, dass dieser Schutz bleibt und die Verfassung nicht geändert wird.
Mehr dazu in der Stellungnahme des Netzwerks Datenschutzexpertise:
https://www.netzwerk-datenschutzexpertise.de/sites/default/files/ste_2025_verfassungsh.pdf
7 Wissenschaftlicher Artikel zu Digitalzwang in der Geschäftsprozessanalyse
Da wir schon beim Thema Digitalzwang sind: Ralf Laue, Professor für Software-Engineering an der Hochschule Zwickau, zeigt in einem Fachartikel zum Thema Geschäftsprozessanalyse in der Softwareentwicklung, dass Digitalzwang von Anfang an mitgedacht und vermieden werden muss. Er greift dabei die von unserer Netzphilosophin Leena Simon entwickelte Definition von Digitalzwang und einige unserer Beispiele auf.
Laue kritisiert, dass bei der Ausbildung und Planung von Projekten Themen wie Zugänglichkeit und analoge Teilhabe kaum eine Rolle spielen. Stattdessen überwiegen bisher die altbekannten Plattitüden von „Kostensenkung“ und „vollständiger Digitalisierung“.
Erfreulicherweise ist der Artikel ohne Bezahlschranke zugänglich:
„Integration des Aspekts ‚Teilhabe‘ in die Geschäftsprozessanalyse“
https://link.springer.com/article/10.1365/s40702-025-01218-z
8 404: Büro not found – wir sind beim Chaos Communication Congress
Zwischen den Jahren wird unser Büro wieder mal nur spärlich besetzt sein. Denn wie jedes Jahr kurieren wir unsere Weihnachtskater mit der Chaos-Familie aus.
Vom 27. bis 30. Dezember sind wir beim #39C3, dem Chaos Communication Congress in Hamburg – gemeinsam mit zehntausenden Neugierigen, Nerds, Aktivist.innen und Technikbegeisterten, die das digitale Morgen lieber selbst gestalten, statt es sich überstülpen zu lassen.
Wenn Sie Lust haben, uns ein wenig unter die Arme zu greifen: Wir suchen noch tatkräftige Unterstützung für Auf- und Abbau und während der Congress-Tage. Melden Sie sich per Mail an mail@digitalcourage.de.
9 Tech-Tipp: KI-Assistenten Gemini abschalten
Der BigBrotherAward in der Kategorie Technik ging dieses Jahr an Google für den KI-Assistenten Gemini, der sich bei Android Handys schleichend auf allen Ebenen integriert. Lehnt man nicht ausdrücklich ab, liest Gemini deine Chat-Nachrichten, scannt deine Fotos und kennt deinen Kalender. Gemini wird so zur Datenschleuse in die USA – und unsere persönlichsten Daten landen auf dem Schreibtisch von Donald Trump.
Der Sicherheitsforscher Mike Kuketz hat nun in seinem Blog beschrieben, wie man in drei Schritten Gemini abschaltet. Sowohl die Speicherung und Analyse von Daten als auch die App-Integration von Gemini lassen sich entweder komplett deaktivieren oder mindestens stark reduzieren:
https://www.kuketz-blog.de/google-gemini-unter-android-deaktivieren-was-wirklich-funktioniert/
10 Post an Digitalcourage
An dieser Stelle lassen wir Menschen zu Wort kommen, die uns geschrieben haben.
-Aurin (im Fediverse)
11 Shop: Wandkalender 2026 & Adventskalender
Wie jedes Jahr gibt es wieder einen Wandplaner für das neue Jahr. Neben wichtigen Feiertagen aus diversen Glaubensrichtungen, gibt der Jahreskalender von Digitalcourage einen Überblick über wichtige digitalpolitische Termine, sowie den Mondphasen. Durch die Anordnung der Wochentage auf einer Reihe können im neuen Jahr keine Termine mehr übersehen werden.
Über folgenden Link ist der Wandplaner 2026 im Digitalcourage-Shop erhältlich:
https://shop.digitalcourage.de/digitalcourage-postkarten-und-kalender/kalender-wandplaner-2026-von-digitalcourage.html
Natürlich gibt es auch weiterhin unseren immerwährenden Türhänger-Adventskalender mit Tipps zur Digitalen Selbstverteidigung:
https://shop.digitalcourage.de/digitalcourage-postkarten-und-kalender/adventskalender.html
12 Digitalcourage in den Medien
- deutschlandfunk.de (10.11.2025):
„Gegen Digitalzwang für analoge Alternativen“
Interview mit Leena Simon, Digitalcourage - jungewelt.de (8.11.2025):
„Regierungsziel »Volldigitales Land«“
13 Termine
- Freitag bis Sonntag, 21.–23. November 2025
Durchblick im Datendschungel: Workshop zur digitalen Selbstverteidigung. Wochenendseminar u. a. mit Christine Wittig von der Digitalcourage-OG München.
Georg-von-Vollmar Akademie, 82431 Kochel am See.
Anmeldung:
https://www.vollmar-akademie.de/programm/kw/bereich/kursdetails/kurs/25244708/kursname/Durchblick%20im%20Datendschungel%20Workshop%20zur%20digitalen%20Selbstverteidigung/#inhalt - Dienstag, 2. Dezember 2025, 11:00-12:30 Uhr
„Digitale Mündigkeit“ mit Leena Simon (Online-Seminar), veanstaltet durch das JFF
Anmeldung unter:
https://www.medien-weiter-bildung.de/veranstaltung/digitale-muendigkeit/ - Samstag-Dienstag, 27.–30. Dezember 2025
Chaos Communication Congress
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