Das wiederentdeckte Grundrecht
Unsere Verfassungsbeschwerde gegen den Staatstrojaner war erfolgreich – und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat es in sich. Karlsruhe hat den Einsatz der Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) auf besonders schwere Straftaten begrenzt. Für Delikte mit einer Höchststrafe von bis zu drei Jahren ist der Einsatz verfassungswidrig – auch rückwirkend. Damit zieht das Gericht eine klare Grenze gegen den Trend, immer weitreichendere Überwachungsmaßnahmen auch auf Bagatelldelikte auszudehnen.
Besonders bedeutsam ist aber: Das Bundesverfassungsgericht rückt mit seiner Entscheidung ein Grundrecht zurück ins Zentrum, das lange Zeit kaum Beachtung fand – das IT-Grundrecht. Es schützt die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, also von Computern, Smartphones oder anderen digitalen Geräten. Dieses Grundrecht hatte das Gericht bereits 2008 im berühmten „Online-Durchsuchungs-Urteil“ geschaffen.
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Wegweisendes IT-Grundrecht
Die damalige Verfassungsbeschwerde war gegen das Verfassungsgesetz in Nordrhein-Westfalen gerichtet, nachdem Ende 2006 dort die Online-Durchsuchung von privaten IT-Geräten erlaubt worden war. Rechtsanwalt für diese Klage war Dr. Fredrik Roggan, damals auch Jury-Mitglied bei den jährlich von Digitalcourage verliehenen BigBrotherAwards. Das Bundesverfassungsgericht stellte 2008 fest, dass die bis dahin bestehenden Grundrechte angesichts der technischen Entwicklung nur noch einen lückenhaften Schutz boten. Deshalb leitete es ein neues Grundrecht ab: das „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“. Übliche Kurznamen sind: IT-Grundrecht, IT-System-Grundrecht oder Computer-Grundrecht. Das neue Grundrecht soll Bürgerinnen und Bürger davor schützen, dass der Staat aus der Ferne ihre informationstechnischen Systeme überwacht. Als Persönlichkeitsrecht ist es von jeder und jedem gegenüber dem Staat einklagbar.
In der Netz-Community und auch bei Digitalcourage setzte man damals große Hoffnungen auf dieses neue Grundrecht. Viele erwarteten, dass es staatliche Überwachung wirksam in Schranken weisen würde. Doch schon wenige Jahre später sprach man in Artikeln vom „vergessenen Grundrecht“. In der Praxis spielte es kaum eine Rolle, anders als das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach dem Volkszählungsurteil von 1983, das bis heute allgegenwärtig ist.
Comeback für das „vergessene Grundrecht“
Jetzt erlebt das IT-Grundrecht ein Comeback. Das Urteil zu unser neuen Verfassungsbeschwerde enthält eine deutliche Aufwertung des Schutzes von Smartphones, die weit über den konkreten Fall hinausgeht. Karlsruhe hat klargestellt, dass beim Zugriff auf Computer und insbesondere Smartphones immer sowohl das IT-System-Grundrecht als auch das Fernmeldegeheimnis zu prüfen sind. Unser Prozessbevollmächtigter Prof. Dr. Frank Braun erklärte im Tagesspiegel Background: „Die Grundrechtskonkurrenzen sind geklärt, wir haben künftig ein Nebeneinander von IT-System-Grundrecht und Fernmeldegeheimnis.“ Damit ist der Schutz von Smartphones deutlich gestärkt.
Diese Klarstellung könnte auch strengere Vorgaben für andere digitale Zugriffe der Polizei nach sich ziehen, etwa bei der täglichen massenhaften Beschlagnahmung und Auswertung von Smartphones, wenn also der Zugriff offen und nicht heimlich per Staatstrojaner erfolgt. Damit wird aus dem einst „vergessenen Grundrecht“ ein handfestes Instrument, das die digitale Privatsphäre wirksam schützen kann.
Warnsignal aus Karlsruhe: Gesetzgeber missachtet Grundrechte
Auch die Ermächtigung zur Online-Durchsuchung von Computern und Smartphones erklärte das Gericht in Teilen für verfassungswidrig – und das aus einem formalen, aber gewichtigen Grund: Das Gesetz hat das sogenannte Zitiergebot verletzt.Dieses schreibt vor, dass ein Gesetz ausdrücklich die Grundrechte benennen muss, in die es eingreift. Diese „Warn- und Besinnungsfunktion“ zwingt den Gesetzgeber, sich der Schwere eines Grundrechtseingriffs bewusst zu werden und darüber öffentlich zu debattieren. Das Gericht stellte fest: Wer das unterlässt, entzieht sich dieser Verantwortung. Eine deutliche Klatsche für den Gesetzgeber.
Folgen für die Gesetzgebung
Darüber hinaus wird die Entscheidung unmittelbare Auswirkungen auf laufende Gesetzgebungsverfahren haben. Der aktuelle Entwurf für ein neues Bundespolizeigesetz sieht etwa vor, dass Personen präventiv mit Staatstrojanern überwacht werden dürfen, um Gefahren abzuwehren – auch wenn „noch kein Tatverdacht begründet ist“. Die Vorgaben des Gerichts stehen dem klar entgegen.
Für uns ist klar: Dieses Urteil stärkt digitale Grundrechte und setzt Grenzen für staatliche Überwachung. Doch ein zentrales Problem bleibt: Um einen Staatstrojaner in ein Gerät einzuschleusen, muss der Staat Sicherheitslücken offen halten, statt sie zu schließen. Damit gefährdet er die IT-Sicherheit aller. Wir werden weiter dafür kämpfen, dass diese gefährliche Praxis beendet wird – und wenn nötig erneut vor Gericht ziehen.