Keine Vorratsdatenspeicherung in der EU!

Pressemitteilung zum Urteil des EU-Gerichtshofs am 6. Oktober 2020. Mehr als 40 NGO fordern Verbot von Vorratsdatenspeicherung.

digitalcourage

 

P r e s s e m i t t e i l u n g
Bielefeld, 6. Oktober 2020

Nichtregierungsorganisationen fordern mit einem offenen Brief an die EU-Kommission:
Keine Vorratsdatenspeicherung in der EU!

  • Heute hat der EU-Gerichtshof geurteilt: pauschale Vorratsdatenspeicherung ist rechtswidrig.
  • Digitalcourage und über 40 Nichtregierungsorganisationen aus 16 Ländern fordern mit einem offenen Brief unter anderem ein EU-weites Verbot von anlassloser Telekommunikations-Überwachung.
  • Den Brief unterstützen in Deutschland u.a.: eco – Verband der Internetwirtschaft, Chaos Computer Club, Deutsche Aidshilfe, Deutsche Vereinigung für Datenschutz, Digitale Gesellschaft, Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ) und Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.

Heute hat der EU-Gerichtshof für die gesamte EU richtungsweisende Entscheidungen zu vier Rechtsstreits über die Vorratsdatenspeicherung von Telefon- und Internetdaten veröffentlicht. Demnach ist eine generelle und anlasslose Vorratsdatenspeicherung illegal. Im Vorfeld hatten Regierungen von EU-Mitgliedsländern, darunter auch Deutschland, sowie die Kommission der EU mit Blick auf das heutige Urteil angekündigt, nach neuen Mitteln und Wegen zu suchen, um die Verbindungsdaten von Telefon und Internet aller EU-Bürger.innen ohne Anlass möglichst lückenlos zu speichern.

„Das heutige Urteil bedeutet: Auch das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verletzt EU-Grundrechte,“ sagt Friedemann Ebelt von Digitalcourage. „Denn Kommunikationsdaten pauschal von allen Bürgerinnen und Bürgern auf Vorrat zu sammeln ist illegal. Wir wollen jetzt, dass diese Selbstverständlichkeit endlich von Regierungen ernst genommen und umgesetzt wird. Der EU-Gerichtshof hat heute äußerst weitgehende Spielräume für Überwachung eröffnet – diese dürfen nicht ausgenutzt werden. Der Standard in Demokratien muss lauten: keine Vorratsdatenspeicherung!“

Mehr als 40 Nichtregierungsorganisationen aus 16 Ländern warnen jetzt mit einem offenen Brief vor diesen Plänen. Der Brief richtet sich an Ylva Johansson, EU-Kommissionarin für Inneres, Thierry Breton, Kommissar für den EU-Binnenmarkt, Didier Reynders, Justiz-Kommissar sowie Margrethe Vestager, Vize-Präsidentin der EU-Kommission.

Artikel: Offener Brief an EU-Kommission: Keine Vorratsdatenspeicherung in der EU!
https://digitalcourage.de/blog/2020/offener-Brief-Vorratsdatenspeicherung

Brief im Wortlaut:
https://digitalcourage.de/data-retention-joint-NGO-letter

PDF mit Englischem Originaltext:
https://digitalcourage.de/sites/default/files/2020-10/joint-ngo-letter-data-retention-06-10-2020_0.pdf

Digitalcourage und alle unterzeichnenden Organisationen fordern:

  • Das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung darf kein Vorbild für die EU und andere Länder werden.
  • Die Kommission soll Verfahren gegen EU-Mitgliedsländer anstrengen, die mit ihren Gesetzen und Praktiken Kommunikationsdaten auf Vorrat speichern.
  • Die Unterzeichnenden des Briefs fordern die Kommission auf, an einem EU-weiten Verbot von genereller und anlassloser Vorratsdatenspeicherung zu arbeiten.
  • Die Kommission soll keine weiteren Pläne zur Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung verfolgen.

Pressekontakt
Friedemann Ebelt (+49 175 44 63 519)
Digitalcourage e.V.
Tel: 0521 1639 1639
presse@digitalcourage.de
https://digitalcourage.de

Weitere Informationen

Digitalcourage
Digitalcourage setzt sich seit 1987 für Datenschutz und Bürgerrechte ein und richtet seit 2000 die jährliche Verleihung der BigBrotherAwards aus. 2008 erhielt Digitalcourage die Theodor-Heuss-Medaille für besonderen Einsatz für die Bürgerrechte.

Der Brief übersetzt auf Deutsch:

Sehr geehrte Frau Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres;
sehr geehrter Herr Thierry Breton, EU-Kommissar für den Binnenmarkt;
sehr geehrter Herr Didier Reynders, EU-Justizkommissar und
sehr geehrte Frau Margrethe Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb und Digitales

Wir sind zutiefst beunruhigt über Erklärungen [1], dass die Kommission beabsichtigt, die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen zur Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten zu prüfen, sobald die Urteile in noch ausstehenden Fällen ergangen sind. Am 9. Dezember 2019 sagte Kommissarin Johansson [2]: „Ich denke schon, dass wir ein Gesetz für die Vorratsdatenspeicherung brauchen“. Eine Studie über „mögliche Lösungen für die Vorratsspeicherung von Daten“ wurde in Auftrag gegeben. Die deutsche Grundrechts- und Datenschutzorganisation Digitalcourage hält das Design der Studie [3] für voreingenommen, da es die Gefahren der Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation nicht berücksichtigt.

Die umfassende und anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten ist das am stärksten in die Privatsphäre eingreifende Instrument und möglicherweise die unbeliebteste Überwachungsmaßnahme, die jemals von der EU verabschiedet wurde. Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung schrieb die umfassende Erfassung sensibler Daten zu sozialen Kontakten (einschließlich Geschäftskontakten), Bewegungsverhalten und Privatleben (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Notrufnummern usw.) von 500 Millionen Europäerinnen und Europäern vor, die keiner Straftat verdächtigt werden.

In seinem Urteil vom 8. April 2014 setzte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Richtlinie 2006/24 zur Vorratsdatenspeicherung außer Kraft, die Telekommunikationsunternehmen verpflichtet hatte, Daten über die Kommunikation aller ihrer Kunden zu speichern. Sie ist aber in verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union noch immer in nationales Recht umgesetzt.

Wir sind der Überzeugung, dass eine derartig invasive Überwachung der gesamten Bevölkerung nicht akzeptabel ist. Mit einer Regelung zur Datenspeicherung werden sensible Informationen zu sozialen Kontakten (einschließlich Geschäftskontakten), Bewegungsverhalten und das Privatleben (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Helplines usw.) von Millionen von Europäerinnen und Europäern gesammelt, ohne Vorliegen von individuellen Verdachtsmomenten. Die umfassende und anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten hat sich in vielen Bereichen der Gesellschaft als schädlich erwiesen. Die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten untergräbt das Berufsgeheimnis, schafft die ständige Gefahr von Datenverlusten und Datenmissbrauch und hält die Bürger davon ab, vertrauliche Kommunikation über elektronische Netze zu führen. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und schwächt damit die Pressefreiheit. Insgesamt beschädigt sie die Grundlagen unserer offenen und demokratischen Gesellschaft. Da es in den meisten Ländern kein finanzielles Entschädigungssystem gibt, müssen die enormen Kosten einer Regelung zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten von den Tausenden betroffenen Telekommunikationsanbietern getragen werden. Dies führt zu Preiserhöhungen und zur Einstellung von Diensten, wodurch die Verbraucher indirekt belastet werden.

Studien [4] belegen, dass bereits die ohne Vorratsdatenspeicherung verfügbaren Kommunikationsdaten zur effektiven Aufklärung von Straftaten ausreichen. Eine umfassende Vorratsdatenspeicherung hat sich in vielen Staaten Europas als überflüssig, schädlich oder sogar verfassungswidrig erwiesen, z.B. in Österreich, Belgien, Deutschland, Griechenland, Rumänien und Schweden. Diese Staaten verfolgen die Kriminalität ebenso effektiv mit der gezielten Sammlung von Verkehrsdaten, die für individuelle Ermittlungen benötigt werden, wie z.B. den im Übereinkommen des Europarats über Computerkriminalität vereinbarte Rechtsrahmen zur Sicherung gespeicherter Daten.

Wir argumentieren, dass das aktuelle deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung nicht als Vorbild für die EU angesehen werden darf. Erstens sind verschiedene Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz anhängig und zweitens verfolgt das deutsche Gesetz den gleichen grundsätzlich riskanten Ansatz, Daten über alle Bürgerinnen und Bürger kontinuierlich und ohne Rücksicht auf individuellen Verdacht, Bedrohung oder Bedarf zu erheben.

Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten einen verbesserten Schutz vor Kriminalität bietet. Auf der anderen Seite sehen wir, dass sie Milliarden von Euro kostet, die Privatsphäre Unschuldiger gefährdet, vertrauliche Kommunikation beeinträchtigt und den Weg für eine immer größere Massenanhäufung von Informationen über die gesamte Bevölkerung ebnet. Als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger, der Medien, der Fachleute und der Industrie lehnen wir gemeinsam die generelle Speicherung von Telekommunikationsdaten ab. Wir fordern Sie dringend auf, keine Versuche zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten zu unternehmen. Gleichzeitig appellieren wir an Sie, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, um sicherzustellen, dass die nationalen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung in allen betroffenen Mitgliedsstaaten aufgehoben werden. Darüber hinaus rufen wir Sie dazu auf, sich für ein EU-weites Verbot genereller und anlassloser Vorratsdatenspeicherung einzusetzen, die die Aktivitäten von Menschen erfassen. Wir fordern Sie auf, den europäischen Weg weiterzuentwickeln mit dem Ziel einer EU, die frei von invasiver Überwachung ist. Wir würden uns freuen, die Angelegenheit mit Ihnen persönlich zu besprechen, zu einem für Sie passenden Termin.

Mit freundlichen Grüßen

Access Now
ARTICLE 19, UK
Associação D3 - Defesa dos Direitos Digitais, Portugal
Association for Technology and Internet / Asociatia pentru Tehnologie si Internet (ApTI), Romania
Chaos Computer Club e.V., Germany
Citizen D/ Državljan D, Slovenia
Dataskydd.net, Sweden
Datenschutzraum e.V., Germany
Deutsche Aidshilfe, Germany
Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD) e.V., Germany
dieDatenschützer Rhein Main, Germany
Die Neue Richtervereinigung - Zusammenschluss von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten e.V., Germany
Digitalcourage e.V., Germany
Digitale Gesellschaft, Germany
Digital Freedom (Digitale Freiheit e.V.), Germany
Digital Freedom and Rights Association / DFRI - Föreningen för digitala fri- och rättighjeter, Sweden
Digital Rights Ireland; Ireland
Dr. Thilo Weichert, Netzwerk Datenschutzexpertise, Germany
eco - Verband der Internetwirtschaft e.V. , Germany
European Digital Rights (EDRi), EU-wide network
Electronic Frontier Finland, Finland
Electronic Frontier Foundation, U.S.A.
Electronic Frontier Norway, Norway
epicenter.works - Plattform Grundrechtspolitik, Austria
FREELENS e.V., Germany
Freifunk Hamburg, Germany
Forum Computer Professionals for Peace and Societal Responsibility, Germany / Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V., FIfF, Germany
Hermes Center for Transparency and Digital Human Rights, Italy
Homo Digitalis, Greece    
Internet Society, German Chapter (ISOC.DE) e.V., Germany
IT-Political Association of Denmark (IT-Pol), Denmark
Iuridicum Remedium, z. s., Czech Republic
Komitee für Grundrechte und Demokratie, Germany
Mike O’Neill, Director of Baycloud Systems, UK
Netzwerk Datenschutzexpertise, Germany
Panda Mery
quintessenz – Verein zur Wiederherstellung der Bürgerrechte im Informationszeitalter, Austria
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V., Germany
Selbstbestimmt.Digital, Germany
Statewatch, UK
Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ), Germany
Vrijschrift, Netherlands
Working Group on Data Retention (Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung), Germany
Xnet, Spain
… weitere Organisationen werden fortlaufend ergänzt …

 



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