Die neue Vergesslichkeit im Netz
Das Internet entblößt jede kleinste Dummheit: Bilder, Zitate und Videos gehen im Netz nie verloren – und werden daher auch nie vergessen. Ewiges Erinnern birgt die Gefahr, dass die digitale Vergangenheit einer Person deren Zukunft unerwünscht beeinflusst. Bekanntes Beispiel ist der Fall „Techno Viking“: Im Jahr 2000 wird eine leicht bekleidete Person beim Tanzen auf einer Technoparty gefilmt. Das Ergebnis ist ein Spott-Clip, der rasant verbreitet wird. Das Berliner Landgericht entschied 2013, dass der Urheber des Clips die Verbreitung seiner Aufnahme zu unterlassen hat, das gleiche gilt für Merchandising-Artikel. Clip und Nerv-Waren wurden ohne Einwilligung der verspotteten Person verbreitet und sind trotz des Urteils problemlos im Netz zu finden, auch noch 14 Jahre später. Die Idee des Rechts auf Vergessenwerden soll in solchen Fällen betroffenen Personen helfen, indem digitale Informationen mit Personenbezug altern und schließlich vom Netz „vergessen“ werden.
Kurze Geschichte des „digitalen Radiergummis“
padeluun, Künstler und Netzaktivist, forderte schon 1995 in seinen Thesen für eine vernetzte Welt das „Recht auf Dummheit“ und er begründete die Vergebung für digitale Fehltritte: „Menschen werden im Laufe ihres Netzlebens viel falsch machen. Sie werden es einsehen. Oder auch nicht. Aber sie alle haben das Recht auf Vergebung – und auch ein Recht auf das Vergessen.“
Ilse Aigner, ehemalige Ministerin für Verbraucherschutz, sprach 2011 von einem „digitalen Radiergummi“, diese Idee kommt von Viktor Mayer-Schönberger, der in seinem Buch Delete für ein digitales Verfallsdatum für Daten plädiert. Das Recht auf Vergessenwerden ist seitdem in der öffentlichen Diskussion und es ist eigentlich bereits geltendes Recht, denn in der derzeit gültigen Datenschutzrichtlinie aus dem Jahr 1995 hat jede Bürgerin und jeder Bürger das Recht, seine personenbezogenen Daten löschen zu lassen. 2014 hat der Europäische Gerichtshof dieses Recht mit einem Urteil gegen Google noch einmal bekräftigt. Das Konzept des Rechtes auf Löschung wurde 2011 von der Europäischen Kommission auch in die Pläne zur EU-Datenschutzreform aufgenommen.
Von einem Verfallsdatum für Daten, nach der Idee von Viktor Mayer-Schönberger, ist da nicht mehr die Rede, dennoch stärkt der Vorschlag für eine Datenschutz-Grundverordnung die Grundsätze der informationellen Selbstbestimmung.
Natürlich ist Vergessen im Netz eine politische und technische Herausforderung: Ein digitales Verfallsdatum darf nicht zum Zensur- oder Überwachungsinstrument werden und Daten mit Halbwertszeit sollen auch nicht dazu führen, dass Menschen die Kontrolle über lokal gespeicherte Daten verlieren.
In Deutschland arbeitet ein Team um Michael Backes am „digitalen Radiergummi“. Das Vorgänger-Projekt X-pire! kann als gescheitert angesehen werden: Mit einem kostenpflichtigen Webbrowser-Plugin können Bilddateien mit einem Löschdatum versehen werden. Gegen das Kopieren und erneute Veröffentlichen eines Bildes vor Ablauf des Löschdatum bietet X-pire! keinen Schutz.
Links von Google auf Antrag löschen lassen
Im Mai 2014 urteilte der Europäische Gerichtshof in Folge einer Klage gegen Google, dass Privatmenschen die Löschung von Links auf Daten mit Personenbezug aus Ergebnislisten von Suchmaschinen verlangen können, wenn diese Daten nicht mehr aktuell oder relevant sind. Im konkreten Fall ging es um einen veralteten Presseartikel, der u.a. Informationen zu der lange zurückliegenden Insolvenz einer Privatperson enthielt.
Google setzte diese Entscheidung prompt mit einem Antragsformular um. Hier kann die Ausblendung von URLs online beantragt werden. Die Links werden nicht gelöscht, sondern nur von der jeweiligen Suchergebnisseite ausgeblendet. Am Ende der Seite erscheint dann der Hinweis: „Einige Ergebnisse wurden möglicherweise aufgrund der Bestimmungen des europäischen Datenschutzrechts entfernt“, an einer Option für die Löschung von Links wird gearbeitet.
Bereits am ersten Tag erhielt Google 12.000 Löschanträge. Wenn Links aus dem Netz getilgt werden, schützt das die Privatsphäre, gleichzeitig könnte durch eine zu großzügige Auslegung des Rechts auf Vergessenwerden eine Art weiche Zensur entstehen.
Schadet das Vergessen der Erinnerungskultur?
Die Erinnerungskultur des Internets ermöglicht berauschend tiefe Einblicke in die Gesellschaft und ihre Vergangenheit. Das Internet ist ein wertvoller Zeitstrahl, mit dem sich die Öffentlichkeit transparent informieren kann. Technische oder gesetzliche Eingriffe in dieses Gedächtnis, wie der „digitale Radiergummi“, können also folgenreiche Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit bedeuten.
Jede technische Lösung und gesetzliche Regelung für ein Recht auf Vergessenwerden muss vor diesem Hintergrund verstanden und angewendet werden. Viktor Mayer-Schönberger strebt „eine gesellschaftliche Debatte über die Wichtigkeit und die Funktion von Erinnern und Vergessen“ (Zitat) an, und mit genau dieser Funktion experimentieren Künstlerinnen und Künstler wie Friedrich Fröhlich. Er hat ein Portrait-Foto von sich online gestellt, das nach und nach aus dem Netz verschwindet. Dieses Portrait ist das erste sich selbst auflösende Bild. Es erscheint in der Google-Bildersuche und wird bald wieder verschwunden sein.
Die Lösung für das Problem mit dem ewigen Erinnern im Netz liegt sicherlich nicht im stupiden Löschen von Sucheinträgen, sondern erfordert ein gesellschaftliches Umdenken, so schrieb padeluun schon vor 19 Jahren „Wir müssen uns über elektronisches Vergessen und Vergeben – oder auch Vergeben und Vergessen – Gedanken machen.“ Für eine Gesellschaft im digitalen Zeitalter ist es entscheidend zu wissen: Was wollen wir erinnern und was wollen wir vergessen?
Links:
Interview mit Viktor Mayer-Schönberge auf zeit.de
Diskussion zu Recht auf Vergessen und Erinnerungskultur auf der re:publica 2012
Beitrag von BR-Alpha
Netzthesen | Thesen für eine vernetzte Welt [1995]
Aktualisierung 17.09.2014: „Privatsphäre muss Gewicht haben“ - Beitrag der Tagesschau
Aktualisierung 22.09.2014: Faktenblatt: Mythen zum Recht auf Vergessenwerden / englisch