#unteilbar2020: Wie man eine Großdemo organisiert - Interview mit padeluun

Etwa 20.000 Menschen haben am 14.6.2020 ein "Band der Solidarität" durch Berlin gezogen. padeluun nimmt uns mit hinter die Kulissen.
Band der Solidarität

Mehr als 20.000 Menschen haben am 14. Juni 2020 ein "Band der Solidarität" durch Berlin gezogen. Mit dieser Demo sollte ein Zeichen gesetzt werden, auch in Corona-Zeiten niemanden zurückzulassen, benachteiligte Menschen zu unterstützen und gemeinsam und solidarisch zu handeln. Ein Band, gebildet aus Menschen, mit drei Meter langen bunten Bändern als Abstandshalter zog sich durch die Stadt, die in den letzten Monaten vielfach mit Demo-Bildern in den Schlagzeilen war, auf denen keine Masken getragen und keine Abstandsregeln eingehalten wurden. Diesmal, bei #unteilbar2020, hat auf der fast neun Kilometer langen Strecke zwischen Brandenburer Tor und Hermannplatz alles vorbildlich geklappt.

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padeluun hatte im Auftrag des Unteilbar-Bündnisses diese Demonstration angemeldet und einen Teil des Sicherheitskonzeptes beigetragen. Seit vielen Jahren hat er Erfahrung mit der Organisation von Groß-Demonstrationen: Etliche Jahre bei den "Freiheit statt Angst"-Demos gegen Überwachung und bei der #unteilbar-Demo im Oktober 2018 mit fast einer Viertelmillion Teilnehmer.innen. In diesem Interview gibt er uns einen Blick hinter die Kulissen.

Das Interview führte Claudia Fischer

Frage: Wie war #unteilbar2020 für Dich? Die erste große #unteilbar-Demo unter Corona-Bedingungen - bist Du zufrieden?

padeluun: Ich bin sehr, sehr glücklich, dass die Demo genau so gelaufen ist, wie wir es uns erhofft hatten. Es ist uns gelungen, mit vielen Menschen das Band der Solidarität an manchen Stellen sogar mehrfach zu ziehen, ohne dass wir überlaufen wurden, wovor wir uns ein wenig gefürchtet hatten. Diese Furcht teilten wir auch mit dem Berliner Innensenator, dass die Abstände nicht eingehalten werden können oder wir hätten abbrechen müssen. Es hat aber super geklappt, insofern haben wir genau das erreicht, was wir wollten.

Frage: Kann das ein Vorbild für andere Demonstrationen sein?

padeluun: Das kommt auf die Größe an, aber ich würde sagen: Eher nein. Wir haben - bei aller Freude - auch festgestellt, wie schwer es ist, so etwas zu organisieren. Um das ganz klar zu sagen: Man darf daraus keine Messlatte für andere Demonstrationen während der Pandemie machen. Wenn zum Beispiel Menschen spontan dagegen demonstrieren wollen, dass gerade Geflüchtete auf dem Mittelmeer ertrunken sind, ist das eine völlig andere Sache als das, was wir mit #unteilbar in einem sehr breiten Bündnis, das sich seit Jahren kennt und viel Erfahrung mit großen Demos hat, wochenlang vorbereitet haben. Das darf man nicht vergleichen. Was man aber bei Demos zur Zeit auf jeden Fall vermeiden sollte, sind Bühnen, vor denen sich Menschen knubbeln. Eine Beschallung funktioniert auch ohne Bühnen.

Insofern sind wir nicht die Musterknaben, an der andere sich messen lassen müssen, das ist nicht möglich. Und ich bin wirklich sehr, sehr froh, dass es so gelaufen ist, wie es ist.

Frage: Aber schauen wir doch erstmal auf die Entstehung. Warum war diese Demonstration überhaupt wichtig?

padeluun: Demonstrationen wirken immer nach innen und nach außen. 

Es war wichtig, vielen Menschen, die mit den Corona-Regeln zu Hause bleiben, die Möglichkeit zu geben, sich mit ihren Sorgen zu artikulieren. Das meine ich mit "nach innen", also für die Demonstrantinnen und Demonstranten, die da zusammen kommen und auch für diejenigen, die aus Vorsicht nicht gekommen sind oder zu weit weg wohnten. Die Corona-Krise macht viele gesellschaftliche Ungerechtigkeiten sichtbar: Ungleiche, unfaire Arbeitsbedingungen, Spaltungen in der Gesellschaft, Probleme im Gesundheitssystem, Angriffe auf Freiheitsrechte - die Liste ist lang und kann im Demo-Aufruf nachgelesen werden. 

Diese "innere" Wirkung darf man nicht unterschätzen, weil das Menschen, die sonst schweigen, dazu bringt, sich zu Wort zu melden. Ich habe das zum Beispiel bei unserer Demonstration vor dem Future Store in Rheinberg 2004 (Hintergründe hier) gelernt. Wir standen als kleines Häufchen Menschen bei der Demo im Schnee vor dem Supermarkt, aber dann kam eine Kundin und sagte "Es ist so gut, dass Ihr hier seid, denn ich habe schon lange Bedenken wegen dem, was dieser Laden da ausprobiert, aber bisher wollte mir niemand glauben." Und später hat sich in Rheinberg eine aktive Bürgerinitiative dazu gebildet. Ohne uns hätten die sich nicht gefunden.

Eine andere Wirkung "nach innen" ist, dass die Menschen sich vergewissern, noch für die richtige Sache unterwegs zu sein. Wir haben als Digitalcourage fast 10 Jahre lang die Demos  "Freiheit statt Angst" gemacht. Das hatte nicht zuletzt die Funktion, die "Szene" regelmäßig zusammen zu bringen, auch mit denen, die nicht direkt zur Aktivisten-Szene gehören. Themen und Anliegen verändern  sich, manche fallen weg, andere kommen neu hinzu. Deshalb ist es  wichtig, mit einer Demonstration einen politischen Rahmen zu schaffen, in dem sich auch Menschen einbringen können, die nicht professionell politisch arbeiten oder regelmäßig einmal die Woche zu einem Vereins- oder Parteitreffen gehen können. Diese Leute nutzen Demonstrationen als eine Möglichkeit zur "Manifestation des politischen Willens", bei dem sie auch das Gefühl haben, gehört zu werden, andere zu treffen und nicht mit ihrer Ansicht alleine zu sein.

Die Kunst ist, den Menschen das Gefühl zu geben, dass die Situation berechenbar ist und dass sie sich orientieren können. Menschen werden unberechenbar, wenn sie das Gefühl haben, dass niemand den Überblick hat. (padeluun)

Matthias Hornung

Frage: Und was meinst Du mit Außenwirkung?

padeluun: Nach außen, also in die Öffentlichkeit, und damit auch gegenüber der Politik und anderen Akteurinnen und Akteuren, ist es natürlich Aufgabe einer solche Demonstration, zu zeigen, dass diese Themen vielen Menschen am Herzen liegen.

Das ist unter Corona-Bedingungen natürlich eine besondere Herausforderung, denn viele Menschen werden sich nicht getraut haben oder hatten keine Lust auf eine Demo mit Mundnaseschutz. Zwanzigtausend Menschen waren viele, aber kein Vergleich zu früheren #unteilbar Demos - schon weil nur wenige Menschen dafür extra nach Berlin gekommen sind, was ja auch vernünftig ist.

Frage: Wie schätzt Du diese Außenwirkung nach #unteilbar2020 ein?

padeluun: Das wird sich noch zeigen. Die Konsequenz aus den Corona-Regeln muss aber sein, dass  Presse und Politik jetzt nicht sagen dürfen, "Nur 20.000, da ist ja quasi niemand hingegangen". Normalerweise werden Demos in Berlin erst ab 100.000 Menschen wirklich ernst genommen. Das passt natürlich im Moment nicht. Jetzt ist es eine Verpflichtung der Verantwortlichen, zu beobachten, was für ein Protest ist da auf der  Straße? Wir müssen unsere Relevanzkriterien neu justieren. Deshalb sage ich auch nochmal, wir können keine Blaupause für andere Demos sein: Ich kann einer Gruppe von Schüler.innen für FridaysForFuture nicht aufdrücken, dass sie so einen Aufwand wie wir bei einer Demo leisten, um im Moment mit ihren Anliegen ernst genommen zu werden.

Wenn jetzt mit den 20.000 Menschen bei #unteilbar2020 das gleiche passiert wie bei der riesigen TTIP-Demo 2016 von Campact in Berlin, die 320.000 Besucher hatte, und die dann weitgehend wegignoriert und kleingeredet wurde, dann ist das extrem schädlich für eine Demokratie. Wenn schon mal so viele Menschen zusammen kommen, dann muss man das auch ernst nehmen. Wer daraufhin einfach sagt, "wir machen weiter wie vorher, dafür wurden wir gewählt", dann beschädigt das die Demokratie immens. Das führt nämlich zu den Konsequenzen, die wir  heute auch sehen, dass Menschen komplett gegen staatliche Maßnahmen herumtrollen und "Jetzt-erst-recht-Anti-Corona-Demos" veranstalten.

Ich möchte nicht ausschließen, dass manche Menschen, die heute auf solchen Demos sind, früher bei uns für ihre berechtigten Anliegen eingetreten sind und gesehen haben, sie kommen auf diesem Weg nicht weiter. Und dann haben sie sich abgewendet, trauen der Politik und dem Staat und mittlerweile auch uns gar nicht mehr über den Weg und sind vielleicht − ich sage mal − "wunderlich" geworden.

Frage: Was war denn Deine Rolle bei der #unteilbar2020-Demo?

padeluun: Ich bin gefragt worden, ob ich der Anmelder sein könnte, und habe zugesagt. Es muss immer jemanden geben, der eine Demonstration anmeldet und mit seinem Namen dafür gerade steht, und der im Zweifelsfall auch ins Gefängnis geht, wenn es Verstöße gegen das  Versammlungsrecht gegeben hat. Und das war in diesem Fall ich.

Daraus  resultierend habe ich mir vorbehalten, dass ich beim Sicherheits-Konzept und Sicherheits-Layout der Demonstration meine Bedingungen stelle. Wir haben einen Rahmen gebaut, in dem die Besucherinnen und Besucher kreativ ihre Meinungen zu unseren Themen ausdrücken konnten. So ein Rahmen ist wichtig für die Sicherheit aller.

Frage: Wie sieht so ein Rahmen aus? 20.000 Menschen sind doch unberechenbar.

padeluun: Die Kunst ist, den Menschen das Gefühl zu geben, dass die Situation berechenbar ist und dass sie sich orientieren können. Menschen werden unberechenbar, wenn sie das Gefühl haben, dass niemand den Überblick hat.

Nehmen wir an, irgendeine unerwartete Situation tritt auf, die Demo-Teilnehmenden bekommen das mit und stellen fest, dass die Orderinnen und Ordner auch gerade nicht wissen, wie sie reagieren müssen, weil die Veranstalter das nicht voraus bedacht haben. Dann entsteht bei den Teilnehmenden ein Handlungsdruck, während die Ordnerinnen und Ordner auf eine Anweisung der Demo-Leitung warten. Das führt zu einer Zeitverzögerung, und es entsteht Unruhe dort, wo die Situation aufgetreten ist. Diese Unruhe bekommen Menschen mit, die weiter weg stehen, und können sie nicht deuten.

So werden Kettenreaktionen ausgelöst, die dann nicht mehr zu verarbeiten sind, von den Teilnehmenden individuell nicht und von der Führungs-Seite aus oft auch nicht. Das kann zu Fehl-Interpretationen einer Situation führen und sich dann im schlimmsten Fall zu Konflikten hochschaukeln.

Wir haben dafür gesorgt, dass immer und auf jedem Streckenabschnitt klar war, dass es eine eindeutige Orientierung gibt.

Frage: Mit welchen Mitteln habt Ihr der Demonstration diesen Rahmen gegeben?

1. Orientierung und klare Zuständigkeiten

padeluun: Als erstes war immer und auf jedem Streckenabschnitt klar, wo die Stellen sind, an die man sich wenden kann. Wer ist eindeutig verantwortlich für einen bestimmten Streckenabschnitt? Woran erkenne ich diese Personen?

Man muss dabei im Kopf haben: #unteilbar wurde nicht von einer einzelnen Organisation verantwortet, sondern es waren derer einhundertdreißig (130!). Jede davon hat einen genau definierten Streckenabschnitt betreut. Und jeder Abschnitt hatte Abschnittsverantwortliche, die dann wiederum ihre eigenen Ordnerinnen und Ordner hatten. Und Ordnerinnen und Ordner waren alle 50-150 Meter positioniert, so dass man sie auch gut sehen konnte.

2. Gut sichtbare, kompetente Ordnerinnen und Ordner

Diese Ordnerinnen und Ordner konnten zum Beispiel auch sagen "Geht mal ein bisschen auseinander" oder "macht mal eine zweite Reihe auf", das hat Pulkbildung vermieden und allen das Vertrauen gegeben, dass wir zum Beispiel die Abstandsregeln gut im Blick haben und umsetzen können. Sie wurden unterstützt von Fahrrad-Scouts, die schnell die Strecke entlang des Bandes der Solidarität zurücklegen konnten, um dort zu sein, wo sie gebraucht wurden.

Unsere Orderinnen und Ordner waren gut zu erkennen. Wer eine gelbe Weste hatte, war mit Funk ausgestattet, die mit weißer Weste nicht. Eigentlich sind nur Armbinden vorgeschrieben, aber wir wollten eine bessere Erkennbarkeit, auch von weitem. Wir haben den Teilnehmerinnen und Teilnehmern damit auch das Signal gesendet "Hier sind Leute, die  durchblicken, was Sache ist, was geplant ist und wie das hier läuft." Übrigens hat ein solcher Überblick auch eine beruhigende Wirkung auf die Polizei. Sie muss nicht die ganze Zeit befürchten, dass eine Demo aus dem Ruder läuft und kann somit entspannt bleiben. Entspannte Polizistinnen und Polizisten haben wiederum eine gute entspannende Wirkung auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Dafür müssen die Ordner.innen natürlich sehr gut eingeführt werden. Wir haben eine Woche vorher und am Abend vorher ausführliche Einführungsveranstaltungen gemacht. Sie hatten ihre Sprechzettel, wo sie vorformulierte Durchsagetexte hatten, falls ihnen in einer wichtgen Situation die richtige Formulierung fehlen sollte. Sie wussten, worauf es uns ankam. Sie mussten gut im Bilde sein, damit sie den Menschen während der Demo auch kompetente Auskünfte geben und Lautsprecheransagen durchgeben können.

Ich habe mal das böse Wort "Demo-Stewards und -Stewardessen" gesagt, das ist natürlich missverständlich, aber eigentlich ist es das treffendere Wort als Ordner. Ordner ist ein Begriff aus dem Versammlungsrecht, deshalb wird das so verwendet und deshalb steht das auch so auf den Armbinden, das ist Vorschrift. Immerhin haben wir ja schon Armbinden mit dem Wort  "Ordner.in" im Digitalcourage-Shop, damit wenigstens sichtbar wird, dass  auch viele Frauen diese Aufgabe machen. Aber viel weiter dürfen wir diesen Begriff leider nicht verändern, weil er juristisch im Versammlungsrecht vorgeschrieben ist. Der Geist ist aber eher, dass sie "Gastgeber.innen" sind und den Teilnehmenden ein gutes Gefühl vermitteln und Orientierungshilfen geben sollen.

3. Die Lautsprecher-Kette

Drittens haben wir als Orientierungsmöglichkeit eine Lautsprecherkette aufgebaut. Alle 100 Meter stand ein Lautsprecher mitten auf der Straße. Darüber wurde das Demo-Programm - Musik und Reden - von Radio Alex per UKW eingespielt. Zusätzlich gab es an jedem Lautsprecher ein Mikrofon, über das die Streckenverantwortlichen oder Ordner.innen Durchsagen machen konnten, um die Leute in der Umgebung direkt anzusprechen. Das hat gut funktioniert.

Auch hier zeigt sich wieder: Das kann nicht jede Demo gewährleisten. Lautsprecher zu mieten ist teuer und einen Sender davon zu überzeugen, dass er seine stadtweite Frequenz für so eine Aktion zur Verfügung stellt, ist wirklich schwer. Das geht nur mit sehr guten Kontakten, viel Vorarbeit und einem sehr, sehr breiten gesellschaftlichen Bündnis, dem sich dann auch so ein Sender anschließen kann. Nebeneffekt: Bis weit über die Grenzen Berlins hinaus (und noch weiter, weil das Programm auch ins Internet eingespeist wurde) konnten die Menschen zwei Stunden lang dem Demo-Programm lauschen.

4. Kommunikation per Funk

Viertens hatten wir intern eine gute Kommunikationsstruktur. Wir hatten acht Kanäle digitalen Bündel-Funk. Das klingt jetzt ein bisschen nerdy, aber tatsächlich hatten wir damit die Möglichkeit, zu jeder Zeit Durchsagen machen zu können. Dadurch war die Demo-Leitung, die neben mir noch aus fünf weiteren Leuten bestand, in der Lage, den Streckenverantwortlichen Informationen weiter zu geben, damit auch sie gut orientiert sind. Sie konnten dadurch auch jederzeit Kontakt mit der Demo-Leitung und diese wiederum zur  Einsatzleitung der Polizei aufnehmen. Damit konnten wir jederzeit eingreifen, wenn irgendwo etwas schief gegangen wäre.

Man muss immer damit rechnen, dass bei so  einer Großveranstaltung Handy-Netze evtl. nicht mehr zuverlässig  funktionieren. Dann muss das Krisen-Team unabhängig auf eigenen Kanälen  und als Gruppe kommunizieren können.

Auch hier wieder: Das ist in Berlin leichter als bei anderen Demos anderswo. Ich kenne hier einen Unternehmer, der ein digitales Stadtnetz in Berlin betreibt und  der mir 200 Funkgeräte zur Verfügung gestellt hat. Ich hatte damit acht Kanäle, mit denen wir sehr fein runterbrechen konnten, auf welchem Kanal welche Leute sind. Wir hatten also die ganze Zeit Kontakt über die ganzen 9 Kilometer Strecke.

5. Krisen-Vorplanung

Hinzu kamen viele Überlegungen und Erfahrungen damit, was bei so einer Großdemo alles passieren kann und was Risiko-Faktoren sind. Ein glücklicher Umstand ist, dass im #unteilbar-Bündnis viele Menschen vom republikanischen Anwaltsverein engagiert sind.  Dadurch hatten wir kompetente Anwältinnen und Anwälte, die an neuralgischen Punkten sofort helfen und beraten konnten. Auch sie konnten wir über Funk erreichen.

Neuralgische Orte sind zum Beispiel da, wo U-Bahn oder S-Bahn-Haltestellen sind, weil dort schnell mal zu viele Menschen zusammentreffen, die vielleicht gar nichts mit der Demo zu tun haben, die dann aber schnell verteilt werden müssen.

Frage: Euer Konzept wurde ja sogar von der Polizei gelobt, das haben mehrere Zeitungen ausdrücklich berichtet.

padeluun: Ja, sogar der englische Guardian hat das zitiert (lacht). Letztendlich war auch die Polizei sehr glücklich, denn es gab keine Vorkommnisse, bei denen sie hätten einschreiten müssen. Sie haben letztendlich nur den Verkehr weiträumig umgeleitet. Immerhin haben wir die Innenstadt ja mehrere Stunden blockiert. 

Vielleicht muss ich das mal erklären für Leute, die sich mit dem Versammlungsrecht nicht auskennen: Die Polizei ist nicht bei Demonstrationen dabei, weil die Menschen, die demonstrieren, irgendetwas Verbotenes machen könnten, was die Polizei verhindern muss. Sondern die Polizei ist dafür da, dass die Menschen, die zu einer Demo kommen, dieses Versammlungsrecht auch ausüben können. Und zwar unabhängig davon, wer zu einer Demo aufruft.

Trotz Corona: Demonstrationen waren immer erlaubt

Das Versammlungsrecht war durch die Corona-Verordnungen, anders als es im Rahmen der sogenannten "Hygiene-Demos" behauptet wurde, niemals außer Kraft gesetzt. Demonstrationen waren auch nie generell verboten. Auch am ersten Tag des sogenannten   "Lockdowns": Wenn ich hätte demonstrieren wollen, hätte ich das tun können. Ich hätte eine Anmeldung gemacht und hätte das auch durchbekommen. Wenn eine Behörde mir sagt "Wir überlegen gerade, ob wir Eure Demo genehmigen können", dann ist das Quatsch, denn genehmigen muss keine Behörde irgendeine Demo. Das Versammlungsrecht kann zwar durch ein Gesetz beschränkt werden, zum Beispiel können Hygieneauflagen gemacht werden. Wenn ich gegen die verstoße oder kein schlüssiges Konzept vorlege, kann die Demonstration untersagt werden. Aber generell können Demos nicht verboten werden.

Ich habe mir aber eine dieser sogenannten "Hygiene-Demos" am Alexanderplatz angeschaut und war wirklich entsetzt, wie das dort zugegangen ist. Mir haben die Polizeibeamten sehr leid getan. Die Beamt.innen dort mussten Dinge bereinigen, die die Politik ihnen eingebrockt hat, und das macht beileibe keinen Spaß. Ich wünsche mir oft, dass Leute mehr im Bewußtsein haben, dass  auch die Polizei aus vielen verschiedenen Menschen besteht. Dort gibt es  Rassisten und Schläger, aber eben nicht nur. Sondern da sind auch sehr viele, die als gute Polizist.innen eine gute Arbeit machen wollen. Bei den "Hygiene-Demos" habe ich die Berliner Polizei dafür bewundert, mit welcher Leidensfähigkeit und Geduld sie damit umgegangen ist. Wenn die Politik vielleicht eine andere Sprache benutzt und ihre Auflagen in den Corona-Verordnungen besser erklärt hätte, wären uns und der Polizei einige dieser seltsamen und aggressiven Aluhut-Demos vielleicht erspart geblieben.

„Man muss immer damit rechnen, dass bei so  einer Großveranstaltung Handy-Netze evtl. nicht mehr zuverlässig  funktionieren. Dann muss das Krisen-Team unabhängig auf eigenen Kanälen  und als Gruppe kommunizieren können.“ (padeluun)

Armbinde für Ordner.innenArmbinde „Ordner.in“ bei uns im Shop

Frage: Ich würde gerne nochmal zurück kommen auf Euren Kontakt mit der Polizei: Es ist schon ungewöhnlich, dass sich die Polizei öffentlich bei Veranstaltern einer Demonstration für Konzept und Durchführung bedankt.

padeluun: Ich denke  mal, das war diesmal auch die besondere Situation mit den Corona-Hygiene-Regeln. Die Situation ist für alle neu und die Berliner Polizei hat ja viel Kritik von der "Hygiene-Demo-Fraktion" einstecken müssen. Die waren wahrscheinlich einfach auch sehr erleichtert, dass das mit uns so gut funktioniert hat und wir uns an alle Regeln gehalten haben. Außerdem waren auch die Medien bereits im Vorfeld auf dieses Thema eingestiegen. Manche Medien hatten von vornherein verneint, dass es überhaupt möglich sei, regelkonform auf der Straße zu protestieren. Deswegen war es dann vielleicht  auch geboten, öffentlich zu sagen "Doch, es ist möglich, sich an die Regeln zu halten."

Frage: Der Innensenator von Berlin, Andreas Geisel, wollte die #unteilbar2020-Demo ja noch kurz vor dem Termin verlegen. Was war da los?

padeluun: Ja, vier Tage vor der Demo wurde uns gesagt: "Das geht ja gar nicht in der Innenstadt mit so einem Hygienekonzept." Es gab nämlich genau eine Woche vor unserer Demo eine andere am Alexanderplatz zum Thema "BlackLivesMatter", bei der die Leute ohne Mundschutz dicht zusammenstanden. Dort waren auch Teile  der linken Szene, die versucht haben, spontan noch Demos anzumelden und die Menschen durch Seitenstraßen wegzuziehen vom Platz. Das hatte aber die Polizei nicht verstanden - kein Wunder, denn innerhalb eines solchen Einsatzes ist es natürlich schwer, so einen Überblick zu behalten.

Der Berliner Innensenator Andreas Geisel wollte dann zeigen, dass er alles im Griff hatte und  hat sich uns, die wir eh kooperativ sind, ausgesucht, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und uns Auflagen verkündet, die wir schon von uns aus sowieso geplant hatten - Maskenpflicht zum Beispiel. Es kam dann so, dass überlegt wurde, die Demo zu verbieten und uns aufs Tempelhofer Feld zu verschieben. Das ist ein ehemaliges Flughafengelände, zu dem es nur vier Zugänge gibt. Da hätte es dann also ein Riesen-Gedränge gegeben. Das hätte ich nicht bespielen wollen mit dem Corona-Hygiene-Ansatz.

Frage: Was hast Du dann unternommen?

padeluun: Ich habe ihm ganz klar zurückgemeldet, dass diese Demo zu diesem Zeitpunkt nicht mehr verlegbar war. Es war längst für die Strecke mobilisiert. Wenn die Versammlungsbehörde so lange braucht, bis sie tätig wird, dann kann das nicht zu unseren Lasten gehen. Wir hatten eine paradoxe Situation: Wenn der Innensenator die Demo verboten hätte, wären die Leute trotzdem gekommen - aber die Organisatoren hätten nicht kommen dürfen, denn die hätten sich strafbar gemacht. Und die Behörde hätte damit ein Chaos erzeugt.

Deshalb habe ich das nicht weiter ernstgenommen, sondern wir haben alles gemacht wie geplant. Ich kann, glaube ich, polizeiliche Überlegungen und Taktiken so weit einschätzen, dass alles gut geplant und gedacht war. Und ich setze auch darauf - so viel Vertrauen habe ich zur Berliner Polizei -  dass sie überhaupt kein Interesse daran hat, auf der Straße ein Chaos zu veranstalten. Im Zweifel, glaube ich, hätte die Berliner  Polizei die Umgebung abgesichert, so wie wir das wollen.

Gottseidank wurde es dem Senator offensichtlich dann doch so gut erklärt, dass er das verstanden hat und es nicht zu einem Showdown zwischen der Polizeiführung und dem Minister kommen musste.

Deshalb sage ich deutlich: Liebe Politikerinnen und Politiker, gerade aus dem Innenbereich, hört bitte darauf, was die Leute aus der Polizei sagen, die wirklich Polizeiarbeit und Polizeiführungsarbeit machen. Was Ihr manchmal von denen verlangt, ist wirklich unter aller  Würde. An dieser Stelle hätte es richtig Probleme geben können, wenn der Innensenator darauf bestanden hätte, die Demo in letzter Minute grundlos zu verbieten.

Frage: Gleichzeitig diskutieren wir genau jetzt aber auch, ausgelöst durch die #BlackLivesMatter-Proteste in den USA, über unangemessene Polizeigewalt bei Demonstrationen. Bist Du zu unkritisch mit der Polizei?

padeluun: Ich denke nicht.  Ich habe einfach im Laufe meines Lebens gelernt, wie die Polizei tickt und wir man gut mit ihr zusammenarbeiten kann.

Als Künstler habe ich früher die Polizei oft provoziert, war häufig in Polizeigewahrsam und habe auch das erlebt, was heute als "Polizeigewalt" am Pranger steht. Nur gab es damals kein Social Media, deshalb hat das nicht viele Menschen erreicht oder aufgeregt. Ich komme aus der Zeit, als der Staat als gefährlich angesehen wurde, als der RAF-Terrorismus die Schlagzeilen beherrschte und Polizisten bei Verkehrskontrollen mit Maschinenpistolen auf die Köpfe von Autofahrerinnen gezielt haben. Aber ich habe dazugelernt - und die Polizei auch. Spannenderweise habe ich heute mit Ministern von damals ein freundliches Verhältnis. Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister, ist so ein Beispiel: Damals hat er hart durchgegriffen,  heute setzt er sich für Freiheit im besten Sinne ein.

Frage: Wie hat sich Dein Blick auf Demonstrationen und auf die Polizei verändert?

padeluun: Ein leitender Polizeidirektor erzählte mir mal, dass er als junger Beamter bei den Anti-Schah-Demonstrationen als Polizist dabei war. Wenn ihm damals jemand prophezeit hätte, dass er sich mal mit Demonstranten vor und nach einer Demo an einen Tisch setzen und die Polizei in der Nachbesprechung sogar Fehler zugeben würde, hätte er den für verrückt erklärt. Aber in den vielen Jahren seiner Laufbahn hätte er gelernt, wie wichtig das sei.

Heute geht es ihm - und mir -  darum, im Dialog und mit Kompromissen einen Weg zu finden, gemeinsame  Anliegen zu formulieren und für alle sichtbar zu machen.

Dieser Lernprozess hat für mich schon mit den "Freiheit statt Angst"-Demos angefangen, die wir als Digitalcourage mit dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung geplant und dann 10 Jahre lang in Deutschland und später auch in Brüssel als "Freedom not Fear" veranstaltet haben. Wir haben bewusst entschieden, dass wir kein "Wir gegen die, gegen das Establishment, die Staatsgewalt, die Polizei" ausdrücken wollten. Unser Anliegen war, zu zeigen "Wir sind  Bürgerinnen und Bürger, die ein legitimes Anliegen haben." Das ist die Aussage von Groß-Demos. #unteilbar2018 war die größte dieser Art, da haben wir 242.000 Menschen in Berlin auf die Straße bekommen. Als die ersten an der Siegessäule ankamen, waren die letzten im Demozug noch nicht vom Alexanderplatz gestartet. So etwas ist in Corona-Zeiten natürlich unmöglich - es wäre auch unverantwortlich.

Frage: Wie würdest Du Dein Verhältnis zur Polizei heute beschreiben?

padeluun: Ich will es einfach mal so  sagen: Ich brauche den Streit mit der Polizei nicht. Ich habe mich mit denen in meiner Jugend ausführlichst herumgestritten. Ich habe Polizei-Brutalität erlebt, und zwar auch welche, die völlig sinnlos war und die ich nicht vorher provoziert habe. Aber ich habe eben auch irgendwann für mich festgestellt: Wenn ich daran etwas ändern will, dann muss ich etwas in der Politik ändern. Dann muss ich darauf achten, dass die Polizei sich  nicht angestachelt fühlt durch politische Hardliner im Innenministerium oder in der Bild-Zeitung, auch auf der Straße Härte zu zeigen. Wir brauchen einen anderen Umgang der  Innenpolitik mit der Polizei und wir brauchen eine lernende Polizei.

Eigentlich will ich eine Polizei, die man nicht sieht. Die sich auf Demonstrationen so zurückhält, dass man kaum wahrnimmt, dass sie da sind. Im Alltag fühle ich mich sicher genug; da muss ich keine Polizei sehen. Aber wenn ich anrufe, dann sind sie innerhalb von wenigen Minuten da. Das ist die Polizei, die man haben will. In Berlin bei "Freiheit statt Angst" und "#unteilbar" haben wir es geschafft, Menschenmengen und Menschenmassen zusammen zu bekommen und es ist grundsätzlich friedlicher abgelaufen als ein Schützenfest auf dem Dorf.

Polizeibeamtinnen und -beamten müssen sich fortbilden dürfen und die Unterstützung  bekommen, deeskalierend zu arbeiten. Ich fordere Bedingungen dafür ein, dass die Polizei aus Liebe zu Menschen und aus Liebe zur Demokratie handelt. Das ist der Ansatz, den ich mir aus der Politik wünsche. Deswegen kann ich die markigen Sprüche wie "da müssen wir durchgreifen"  überhaupt nicht leiden. Das ist falsch, das ist bei der Erziehung von Kindern falsch genauso wie beim Verhältnis zwischen Polizei und Bürger.innen.

Frage: Aber muss Polizei nicht auch manchmal durchgreifen?

padeluun: Das Durchgreifen ist dafür da, wenn Sachen schief gegangen sind. Wenn's gar nicht mehr anders geht. Stattdessen gibt es genug Beispiele dafür, dass die Polizei so falsch eingesetzt wurde, dass etwas schief geht. Nehmen wir den Hamburger G20-Gipfel 2017, wo ich mit  meiner Erfahrung als jemand, der große Demonstrationen plant und mit der Polizei arbeitet, sage, das hat Olaf Scholz damals sehenden Auges verursacht. Alles, was in Hamburg passiert ist, war komplett unnötig und ist einfach falsch gemacht worden. Und für mich ist es  wirklich eine Katastrophe, dass so jemand in ein Ministeramt kommt zur Belohnung für den Hamburg-Einsatz und heute sogar stellvertretender Kanzler ist, mittlerweile sogar Kanzerkandidat. Das macht mich richtig sauer.

Frage: Denkst Du, dass man alle Konflikte gewaltfrei lösen kann?

padeluun: Überhaupt nicht. Ich bin kein Friedensaktivist. Ich weiß, dass an vielen Stellen eine friedliche Lösung die beste ist. Aber ich habe auch verstanden, warum an manchen Stellen auch mal ein robuster Einsatz notwendig ist. Wie gesagt: dann, wenn etwas schief gegangen ist.

Ich  bewundere Menschen, die gandhi-mäßig ihr Leben führen und viel Demut an den Tag legen, die ich einfach nicht habe. Insofern wäre es falsch, mir ein Friedenslabel anzudichten, weil es einfach nicht stimmt.

Der Polizeiberuf ist ein besonderer, denn jeder Mensch kann auch mal zum Fall werden. Das lernen Polizistinnen und Polizisten in ihrer Ausbildung, das bestimmt ihr Denken, was wir manchmal befremdlich finden. Es steckt ein langer Erkenntnisprozess bei mir dahinter, wenn ich jetzt sage, dass Polizisten auch Menschen sind. Und dass auch innerhalb der Polizei eine Bewegung zum Guten hin stattfindet, die oftmals von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wird.

Bei "Freiheit statt Angst" in Berlin, da haben sich Polizeibeamte vor ihre Kollegen geschoben, als diese auf die Demonstrant.innen losstürmen wollten. In Berlin kann man gut sehen, mit welcher  Gelassenheit sie vorgehen können. Natürlich nicht, wenn dauernd gefilmt wird und von Polizeibrutalität die Rede ist und nicht erkannt wird, dass  es ein normaler Einsatz sein kann, wenn die Polizei jemanden festnimmt. Sich in diesem Spannungsfeld zu bewegen ist extrem schwierig, auch für die Polizei.

Frage: Und dennoch gibt es brenzlige Situationen auch auf "Deinen" Demos. Wie hast Du es geschafft, dass es noch nie besonders eskaliert ist?

padeluun: Ich weiß es nicht. Ich bin bereit, mich für die Sachen, die mir wichtig sind, zu engagieren. Und das gebe ich dann einfach voll rein in so einen Konflikt, dass ich eine Absicht habe, die ich nicht durch eine Gewaltsituation kaputt machen lassen will.

Ich hatte zum Beispiel mal folgende Situation: Du hast ja als Versammlungsleiter einen Polizisten oder eine Polizistin bei dir, der oder die Dich immer begleitet und den Kontakt zu den Kollegen hält. Bei einer Demo in einer schwierigen Situation guckte mich mein Kontaktbeamter mal besorgt an und sagte "Schnell  weg, die Kollegen kommen." Damit meinte er den Eingreiftrupp.

Diese  Leute, das muss man wissen, die gucken nicht mehr nach rechts und links, sondern die haben einen klaren Auftrag, z.B. jemanden aus der Menge zu holen, und wer dann im Weg steht, wird halt niedergewalzt. Und das kann auch ein Kollege sein, das ist auch schon mal dem Leiter der Versammlungsbehörde hier in Berlin passiert, dass er eins über die Mütze gekriegt hat.

Ich habe damals meinen Kontaktbeamten einfach nur angeguckt und gesagt  "Sie können gehen, ich bleibe." Und ich stelle mich dann halt dazwischen. Ich selber sehe mich zwar nicht als besonders heldenhaft an, aber an der Stelle, nee, da gehe ich dann nicht weg, weil das "meine" Demonstration ist. Ich will dann einfach nicht, dass da jemandem etwas passiert, der von mir eingeladen wurde, für seine Ansichten auf die Straße zu gehen. Da bin ich dann einfach auch Gastgeber. Das möchte ich nicht, das ist nicht die Vereinbarung, die ich habe. Der Kontaktbeamte ist dann natürlich auch geblieben. Und diese Situation hat sich dann auch  aufgelöst.

Das  kann zwar, muss aber nicht immer funktionieren. Da gibt es immer ein Risiko. Denn man kann natürlich auch nicht überall sein und bekommt  nicht immer alles gleichzeitig mit.

Frage: Du trägst auf Demonstrationen immer Anzug und Inline-Skates. Warum?

padeluun: Ich gehe mit mir selbst künstlerisch um. Ich trage einen Anzug mit Krawatte und Weste. Auf der Krawatte steht "Security" drauf, das kommt bei den meisten Menschen sehr humorvoll an. Damit setze ich bewusst eine Ausstrahlung von männlich, weiß, Cis, Macho-Ebene auf, die zum Beispiel auch bei Behörden bekannt ist als "das ist verlässlich". Durch die Skates werde ich zum Beispiel schlicht einen halben Kopf größer. Der Anzug mit Weste bewirkt "Oh, der hat sicher Jura studiert, da müssen wir  aufpassen." Ich habe das mal für mich definiert als "Ich zeige mit dieser Kleidung, dass es mir ernst ist." Die Inline-Skates brechen das einerseits auf, aber erst auf den zweiten Blick. Außerdem bin ich damit sehr mobil, das kann ich als Versammlungsleiter gut brauchen. Allerdings nutze ich die Inliner in letzter Zeit etwas seltener.

Also setze ich ganz bewusst nicht auf diese lockere Kleidungs-Attitüde nach dem Motto "Alles kühl, Kumpel", sondern ich sage ganz deutlich "Ich weiß, was ich möchte, und das stelle ich auch durch die Kleidung klar." Das funktioniert quasi überall, weil sie eben sehr neutral ist. Sei es bei der Polizeiführung, sei es bei der Behördenleitung, sei es auf der Straße, sei es im besetzten Haus. Denn wer geht schon im Anzug in ein besetztes Haus? Der muss schon irgendwie seltsam oder gar cool drauf sein, sonst käme der hier nicht rein. So funktioniert das mit den meisten  Bevölkerungsgruppen ganz gut.

Frage: Ist das nicht eher sogar provozierend, zum Beispiel bei den Leuten, die den Staat eher als Feind betrachten und Dich damit als Spießer einordnen, der das Establishment vertritt?
 
padeluun: Ich glaube, die Ernsthaftigkeit, die Verlässlichkeit, die das ausstrahlt, hilft auch bei dieser Gruppe sehr viel. Ich hatte in den frühen Jahren bei den "Freiheit statt Angst"-Demos zwei, drei Situationen, in denen die Polizei sich schon mit Helmen positioniert hatte. Wo es also  drohte, zu Raufhändeln mit Teilen der Demonstration zu kommen. Da ist es mir mit dem Anzug gelungen, dazwischen zu stehen und mit beiden Gruppen  sprechen zu können. Ich habe die einen gebeten, mal - wenigstens ein bisschen - das Tuch runter zu machen und dann die Polizei gebeten, "nehmt doch bitte mal  Eure Helme ab", und bin wieder zurück zu den Demonstrierenden geskatet. Das wird goutiert.

Es gibt natürlich auch Situationen, wo man merkt "Okay, die wollen jetzt..." - sowohl bei den Polizist.innen als auch bei den Demonstrant.innen. Da hilft dann nichts mehr. Aber gerade bei 'meinen' Demos war nicht die Absicht solche Bilder herstellen zu wollen. Und dann beiden Seite zu helfen, wieder auszusteigen aus der Aggression und der Eskalationsspirale, das ist dann wichtig.

Frage: Ich könnte mir vorstellen, dass es ein Aufschaukeln von Aggressionen und Konflikten auch innerhalb eines solchen Bündnisses wie #unteilbar gibt, oder nicht? Wie klappt es dort, dass so viele unterschiedliche Gruppen an einem Strang ziehen?

padeluun: Natürlich gibt es auch dort Konflikte und Aggressionen. Die Kunst ist, schon im Vorfeld hinzubekommen, dass verschiedene Gruppen gut repräsentiert werden durch einzelne, die mit am Tisch sitzen und mitbestimmen, wie die gesamte Bündnisarbeit läuft. Je konträrer die Gruppen, desto besser müssen sie direkt eingebunden sein und bereits in der Diskussion schon mal ausprobiert haben, ob es noch okay ist, wenn sie dieses vor haben oder jenes tun wollen. 

Ich finde es wichtig für den Diskurs, dass jede und jeder sagt, was er oder sie möchte, und nicht hinterm Berg hält. Schlimm ist es, wenn Leute Geheimpolitik machen, denn das fördert  nicht den demokratischen Diskurs. Nein, ich als Bündnismitglied muss wissen, was denken und fordern die anderen Leute, mit denen ich hier zusammen sitze, was ist ihr Anliegen, was wollen sie durchsetzen? Ich bin natürlich auch nicht immer einverstanden mit allen Menschen, mit denen ich zusammen arbeite. Aber ich finde es wichtig, alle Positionen zu kennen. Denn meine ideale Vorstellung einer Welt ist, wenn alle Menschen sich einbringen können und einander kennen, so dass sie alle zusammen eine große Gemengelage einer friedlichen Gesellschaft bilden können. 

Dass das beim #unteilbar-Bündnis so gut funktioniert, ist nicht mein Verdienst, sondern Ergebnis der großartigen Arbeit von vielen und natürlich auch vom Kernteam: Bei "Freiheit statt Angst" musste ich an sehr viel denken, weil wir eine sehr kleine Kerngruppe waren, die das organisiert  haben. Da habe ich auch viel mehr selbst machen müssen, zum Beispiel das Programm, Moderation, die Bühne, die Technik, dies und das. Beim #unteilbar-Bündnis ist es so, dass ich mich in viele Sachen überhaupt nicht einbringen musste: In die Programmgestaltung nicht, oder in den  Stream, weil ich da erwachsen agierende Leute sehe, bei denen ich davon ausgehen kann, dass sie an alles denken.

Vor allem sind da auch sehr kluge Leute dabei, die schon sehr lange im Berliner Geschehen sind und die auch wissen, wen man  ansprechen muss. Die aktiv immer wieder überlegen,  "Haben wir jemanden vergessen, fehlt noch irgendwas, irgendwer? Fehlt  eine der jüdischen Bewegungen, fehlt eine der muslimischen Bewegungen? Haben wir eine marginalisierte Gruppe vergessen? Wer von den weißen Männern muss sich noch zurückziehen, damit die Ausgewogenheit gewahrt ist?" Die Mischung ist die Kunst, und da wirken alle dran mit. Auch die weißen Männer, die dann eben mal nicht an vorderster Front stehen dürfen.

Frage: Aber während einer Demonstration laufen ja nur nicht die Menschen mit, die vorher gemeinsam am Tisch gesessen und geplant haben. Da kommen ja auch Leute aus vielleicht extremen Gruppen zusammen, die nicht mit verhandelt haben. Wie bindet Ihr die ein, damit es nicht knallt?

padeluun: Wir wissen, wenn sich Gruppen anmelden, wer wie tickt. Die einen sind eher aggressiv und wollen mit dem Kopf durch  die Wand, die anderen tendieren dazu, sich einen Aluhut  aufzusetzen. Und dann mache ich mir Gedanken dazu, wie diese Gruppen auch an der Demo  teilnehmen können und sich nicht provoziert fühlen. Ich bin sehr glücklich darüber, dass es uns bei den Freiheit-statt-Angst-Demos gelungen ist, dass z. B. auch die radikaleren Leute unbegleitet von der Polizei, auch unbegleitet von der Zivilbeamten, in unserer Demo mitmachen konnten und für unsere gemeinsamen Anliegen eintreten konnten.

Frage: Wie geht das ganz praktisch?

padeluun: Das gilt zum Beispiel für die Platzierung bei der Demo. Es braucht einfach Fingerspitzengefühl, dass man z.B. direkt verfeindete Gruppen nicht unbedingt hintereinander laufen lässt. Aber wir hatten auch schon mal den Fall, dass der MSB Spartakus direkt neben der FDP gelaufen ist für ein und dasselbe Anliegen. Diesen gemeinsamen Kernpunkt zu finden, ist das Ergebnis langer Aushandlungsprozesse. Und man darf das nicht überschätzen: Nach  so einer Demo wird der MSB Spartakus kein Stück mehr die FDP mögen und umgekehrt auch nicht, nur weil sie einen halben Tag nebeneinander gelaufen  sind und vielleicht sogar hinterher noch ein Bier zusammen getrunken haben. Aber diese Begegnungen sind meistens auch schön, wenn man wahrnimmt, wie politische Gegner  ticken und dass es  trotz vieler Differenzen dennoch gemeinsame Anliegen geben kann.

Insgesamt ist meine Erfahrung: In den meisten Fällen können politisch arbeitende Menschen aushalten, an bestimmten Stellen auch mit Leuten etwas gemeinsam zu tun, ohne sich gleich funktionalisiert oder bis ins Mark angegriffen zu fühlen.

Frage: Es gibt vor Demonstrationen ja sogenannte "Anmeldergespräche" mit der Polizei. Was gibt es dabei zu beachten? Hast Du Tipps?

padeluun: Ich versuche das immer so: Ich überlege mir vorher genau, was meine Gruppe und ich  machen wollen. Wie wollen wir bestimmte Situationen regeln, wie begegnen wir bestimmten Situationen oder wie vermeiden wir diese? Wie schaffen wir es, dass unsere Demonstration friedlich ablaufen kann? Vom Beginn der Veranstaltung bis zum Ende, vom Bühnenaufbau bis zum Aufräumen hinterher. Wie kann das alles laufen, ohne dass es zu Konflikten kommt?  Im Zweifelsfall rate ich sogar dazu, die eigenen Pläne vor der Demo mit einem Anwalt durchgesprochen zu haben, bevor man in so ein Anmeldergespräch geht. Dann ist man gut vorbereitet.

Viele Leute wissen beim Anmeldergespräch nämlich noch nicht genau, was sie machen wollen und wollen dann erstmal mit der Behörde absprechen, geht dies oder jenes überhaupt? Das ist aber der falsche Ort dafür, weil für die Versammlungsbehörde und auch die Polizei wichtig ist, zu checken, ob sie es mit jemandem zu tun haben, der oder die genau weiß, was er oder sie da tut. Die wollen sich vergewissern, dass Situationen vorher durchgedacht wurden und dass sie nicht befürchten müssen, dass sie drei weitere Hundertschaften dazustellen müssen.

Frage: Das klingt viel konfrontativer als die kooperative, verständnisvolle Zusammenarbeit, die Du oben beschrieben hast.

padeluun: Im Gegenteil. "Harte Rechnung, gute Freundschaft". Denn beim Anmeldergespräch beschnuppern sich der Versammlungsanmelder und die Polizei, mit wem sie es auf der jeweils anderen Seite zu tun haben. Da kommt es wirklich darauf an, genau zu wissen, was man will und warum man das will. Dann legt man die Karten auf den Tisch und dann kann die andere Seite ebenfalls genau sagen, was sie will und warum sie das will. Ich hatte schon einmal den Dialog, dass die Behörde sagte "durch diese Straße können wir sie nicht durchlassen, denn da haben wir keine Möglichkeit einen Einsatz zu machen, wenn etwas schief gehen sollte". Ich meinte nur trocken: "Ich sehe dort auf dem Straßenplan fünf Möglichkeiten für einen Einsatz." Und damit war das Thema vom Tisch. Hier hatte es sich ausgezahlt, dass ich mal das kleine Handbuch der Polizeitaktik gelesen hatte und das Wissen nun anwenden konnte. Und vorher die ganze Strecke selber mit Inline-Skates abgefahren bin - so kannte ich die örtlichen Gegebenheiten genau. Das brachte mir durchaus Respekt ein.

Ich bin Künstler mit anarchistischer Grundhaltung und Hochachtung vor der Repräsentativen Demokratie. Ich wollte nie "führen", sondern meine künstlerische Arbeit ist darauf angelegt, dass eines fernen Tages alle Menschen gleichzeitig einmal das Richtige tun. Bis es aber soweit ist, habe ich gelernt, braucht es achtsame Führung.

Mein Lieblingsbeispiel: Seit ich einen Hund habe, habe ich nämlich ein anderes Verhältnis zur Führung bekommen. Mein Hund braucht von mir den Eindruck, dass ich führe, weil der Hund die Komplexität einer Situation nicht erkennen kann. Das ist gar nicht flapsig oder arrogant gemeint, sondern sehr ernst. Denn wenn ich als Demo-Teilnehmer zu einer Demo gehe, dann unterwerfe ich mich auch dort der Führung, weil die Komplexität, die ich nicht geplant habe, ja auch gar nicht überblicken kann. Da bin ich dann also der Hund und muss lernen, Beta oder Gamma zu sein und nicht Alpha. Um im Bild zu bleiben: Im Anmeldergespräch klären zwei oder mehr Alphas miteinander, wie sie sich eine gemeinsame Führung zutrauen.

Frage: Gibt es Dinge, die Du bei der nächsten Großdemo anders machen würdest?

padeluun: Kleinigkeiten  gibt es immer. Es ist auch immer so, dass während oder nach einer Demo  Leute sagen, was wir alles schlecht gemacht haben. Und es ist immer gut,  wenn man bei jedem dieser Vorwürfe weiß, was man getan hat, damit man  eine Antwort auf so einen Vorwurf geben kann. Und man muss dann irgendwann auch sagen: "Ja, wäre  besser gewesen, wenn wir da auch noch dran gedacht hätten, aber -  Mensch, wir hatten drei Wochen zur Vorbereitung und die meisten hatten auch noch einen Brotjob zu erledigen, und mehr ging jetzt nicht."