Googles Generalangriff auf das freie Internet
Ursprünglich veröffentlicht von Greg Farough am 28. Juli 2023 auf DefectiveByDesign.org. Mit freundlicher Genehmigung des Autors übersetzt von Christian Pietsch.
Die Verwendung eines freien Browsers ist heute wichtiger denn je. Wir haben kürzlich über dieses Thema geschrieben, aber das Problem, über das wir dort schrieben, war unbedeutend im Vergleich zu der groben Ungerechtigkeit, die Google jetzt den Web-Nutzenden auf der ganzen Welt aufzuzwingen versucht. Die sogenannte „Web Environment Integrity“ (Integrität der Web-Umgebung, WEI) ist die schlimmste Aktion, die wir seit langem von Google gesehen haben. Was als harmloses, wenn auch besorgniserregendes Strategiepapier auf Microsoft GitHub begann, hat Google nun im Eiltempo in seinen Chromium-Browser¹ integriert. Bei der derzeitigen Umsetzungsgeschwindigkeit wird WEI uns in kürzester Zeit heimsuchen.
Indem sie eine API (Programmierschnittstelle) bereitstellt, über die Entwickler.innen bestimmte Browser-Betriebssystem-Kombinationen zulassen und andere verbieten können, ist die WEI ein enormer Schritt in Richtung der „Enshittification“² des gesamten Webs. Viele von uns sind mit einer bestimmten Vorstellung vom Internet aufgewachsen, nämlich dass es sich um eine Sammlung von mit Hyperlinks versehenen Seiten handelt, auf die von einer Vielzahl unterschiedlicher Rechner, Programme und Betriebssysteme zugegriffen werden kann. WEI ist die Antithese zu dieser Vorstellung.
Verglichen mit den gewaltigen potentiellen Auswirkungen ist das technische Mittel, mit dem die WEI ihre Ziele erreicht, relativ einfach. Bevor ein Server eine Webseite ausliefert, kann er einen „Überprüfungsdienst“ eines Drittanbieters bitten, sicherzustellen, dass die Browserumgebung des Benutzers nicht „manipuliert“ wurde. Eine Übersetzung der Terminologie der Richtlinie hilft uns hier weiter: Dieser Google-eigene Server wird gebeten werden, sicherzustellen, dass der Browser in keiner Weise von der von Google akzeptierten Browser-Betriebssystem-Kombination abweicht, was eine sinnvolle Nutzung der vier Freiheiten ausschließt. Es ist nicht weit hergeholt, sich eine Zukunft vorzustellen, in der Websites sich einfach weigern, Nutzern mit freien Browsern oder freien Betriebssystemen Seiten anzubieten. Wenn WEI jetzt nicht gestoppt wird, wird diese Zukunft schneller kommen, als wir denken.
Zwar gibt es ein Strategiepapier zur Web Environment Integrity, in dem versucht wird, gültige Verwendungsmöglichkeiten zu erläutern, doch sind dies alles Kleinigkeiten im Vergleich zu der absehbaren tatsächlichen Verwendungsweise. WEI wird von Regierungen eingesetzt werden, um sicherzustellen, dass nur ihre offiziell „genehmigten“ (sprich: mit Backdoor versehenen) Browser auf das Internet zugreifen können; sie wird von Unternehmen wie Netflix eingesetzt werden, um das Digital Restrictions Management (DRM)³ voranzutreiben; sie wird von Google eingesetzt werden, um den Zugang zu ihren Diensten zu verweigern, es sei denn, Sie verwenden einen Browser, der ihrer Gewinnspanne entgegenkommt.
Vor langer, langer Zeit lautete das Motto von Google „sei nicht böse“. Angesichts der rasanten Fortschritte, die das Unternehmen bei Web Environment Integrity in so kurzer Zeit gemacht hat, können wir mit großer Sicherheit sagen, dass Googles Motto jetzt darin besteht, Vorreiter des Bösen zu sein. Während wir dies schreiben, arbeiten talentierte und gut bezahlte Google-Ingenieure und -Führungskräfte daran, das zu demontieren, was das Web zum Web macht. Weil Google eines der größten Unternehmen der Welt ist, besteht unsere einzige Hoffnung, das Internet in seiner bisherigen Form zu retten, in einer klaren und prinzipienfesten Haltung für die Freiheit, in einem kollektiven Festhalten an den Gemeinschaftsprinzipien, auf denen das Web basiert.
Um es zu wiederholen: Es gibt absolut keine legitime Rechtfertigung für WEI. Die Anwendungsfälle, die in dem Strategiepapier hervorgehoben werden, sind nichts im Vergleich zu ihrem wirklichen Anwendungsfall, nämlich der Entwicklung einer Methode zur vollständigen und totalen Kontrolle des freien Internets.
Wir fordern alle, die in einer Entscheidungsfunktion bei Google tätig sind, dazu auf, die Prinzipien zu berücksichtigen, auf denen das Internet gegründet wurde, und sorgfältig zu prüfen, ob die Web Environment Integrity mit diesen Prinzipien übereinstimmt. Wir hoffen, dass sie die fundamentale Unvereinbarkeit von WEI mit dem freien Internet erkennen und die Arbeit an dem Standard sofort einstellen werden.
Und wenn sie es nicht tun? Nun, dann sollten sie sich schämen.
Anmerkungen
¹ Änderungen an Google Chrome bzw. dessen quelloffener Variante Chromium sind so schwerwiegend, weil heutzutage fast alle modernen Browser auf Google Chromium basieren und Googles Rendering-Engine Blink verwenden, z.B. Microsoft Edge, Brave, Vivaldi, Opera, Yandex Browser und viele mobile Browser wie z.B. Samsung Internet. Erwähnenswerte Ausnahmen sind Mozilla Firefox, Tor Browser und Apple Safari.
² Der Begriff „Enshittification“ wurde von dem Blogger, Journalist und Science-Fiction-Autor Cory Doctorow geprägt. Eine wörtliche Übersetzung wäre „Scheißifizierung”. Gemeint ist eine zunehmende Verschlechterung der Internet-Erfahrung, weil mächtige Internet-Plattformen ihr Marktmacht zum Nachteil der Nutzer.innen ausnutzen. Eine deutsche Zusammenfassung haben wir in dem Kasten unten auf dieser Seite gefunden.
³ Die IT-Wirtschaft spricht bei DRM von „Digital Rights Management“ (digitale Rechteverwaltung). Zivilgesellschaftliche Organisationen wie die FSF und FSFE finden wegen des freiheitsfeindlichen Ansatzes die Bezeichnung „Digital Restrictions Management“ (oder auf deutsch: Digitale-Rechte-Minderung) treffender.
Mehr über Web Environment Integrity (WEI)
- heise online: Web Environment Integrity: Großer Widerstand gegen Googles Browser-DRM
- Golem: Bedrohung für Wahlfreiheit und Privatsphäre der Nutzer
- Kritik der Free Software Foundation Europe und anderer an DRM: drm.info
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