Wir feiern den Datenschutz
Jedes Jahr wächst die Zahl der Mächtigen, die uns nicht leiden können und am liebsten vom Spielfeld pusten würden. Immer dann, wenn die BigBrotherAwards verliehen werden. Unser Negativpreis für Datenkraken, mit dem wir aufklären, Missstände und Skandale aufdecken und Themen in die Öffentlichkeit bringen, die vorher nicht bekannt waren. Und das bereits seit 25 Jahren.
Wir haben in dieser Zeit viel erreicht und viel bewegt. Wir haben Datensünder enttarnt, die Gefahren von Technologien aufgedeckt und Politiker für Überwachungsgesetze getadelt. Vor allem haben wir darüber das Thema Datenschutz aus der Nische geholt und Kampagnen angestoßen, die Abertausende mobilisieren.
Die erste Verleihung der BigBrotherAwards im Jahr 2000 bekam gleich viel Aufmerksamkeit. Zu den Preisträgern zählten damals unter anderem das Bundesverwaltungsamt für sein „Ausländerzentralregister“. Und die Firma „Loyalty Partners“ für ihre Payback-Karte, mit der systematisch Daten der Kundinnen und Kunden abgegriffen und kommerziell genutzt wurden, ohne dass diese darüber informiert wurden.
Unser Negativpreis gewann also gleich das Profil, für das er heute noch steht: Er ist dazu da, den großen Playern und den Machthabenden genau auf die Finger zu schauen. Überall dort, wo sie Gesetze verbiegen oder illegal ihre Stellung ausnutzen wollen. Sie haben Watchdog-Funktion. Und wir hatten noch nie Angst davor, auf der BigBrother-Bühne den Kampf mit vermeintlich stärkeren Gegnern aufzunehmen.
Hätten wir vor 25 Jahren gedacht, dass wir den Preis heute noch verleihen würden? Nein. Aber uns gehen die Themen nicht aus. Die BigBrotherAwards werden nach wie vor gebraucht – oft dringender denn je.
In vielen Fällen waren wir mit den Auszeichnungen unserer Zeit voraus. Zum Beispiel bei Big-Tech-Giganten wie Microsoft, Google, Facebook oder Amazon, die in all den Jahren zu den BBA-Stammkunden gehörten. Wir haben immer wieder vor der Abhängigkeit von diesen Datenkraken gewarnt. Jetzt erleben wir, wie sich die Tech-Bros zu willfährigen Gehilfen eines Mafiapaten im Weißen Haus machen. Und uns die Abhängigkeit auf die Füße fällt.
Aber die BigBrotherAwards zeigen immer auch Alternativen auf. Es ist ein Negativpreis – mit empowernder Wirkung.
Die BigBrotherAwards decken auf
Wir von Digitalcourage organisieren die Verleihung, weil wir nicht nur jammern oder kluge Texte schreiben wollen, sondern etwas verändern. Das teilen wir mit den ehrenamtlichen Jurymitgliedern, die ihre ganz unterschiedlichen Kompetenzen einbringen. Und mit all den Freiwilligen, die uns Hinweise geben und die Augen mit uns offenhalten, wenn es um Verstöße gegen den Datenschutz geht.
Die BigBrotherAwards bekommen jedes Jahr mehrere Hundert Meldungen – von geprellten Verbrauchern, von bespitzelten Arbeitnehmerinnen, von Administratoren, Software-Entwicklerinnen und Behördenmitarbeitern. Manchmal ist es eine kurze E-Mail, die den Anstoß gibt, manchmal kommt ein ganzes Dossier. Wir gehen allen Hinweisen nach, beobachten die technische und politische Entwicklung genau und recherchieren. So konnten wir mit den BigBrotherAwards in 25 Jahren etliche Skandale ans Licht holen.
Der Preis für die Metro AG hat 2003 die Gefahren von RFID-Funkchips allgemein bekannt gemacht, noch bevor die Technologie verbreitet war. RFID sind winzige Chips mit Antenne, die Informationen über das Produkt und eine eindeutige Seriennummer enthalten, die per Funk ausgelesen werden. Eine Gefahr für die Privatsphäre, denn das Auslesen kann unbemerkt geschehen. Später entdeckten wir, dass der Konzern RFID-Schnüffelchips auch in den Payback-Kundenkarten des Supermarktes versteckt hatte – ohne Wissen der Kund.innen. Wir brachten den Fall in die Presse und organisierten die erste Demonstration gegen die RFID-Technologie überhaupt. Die Bilder gingen um die Welt.
Wir haben 2020 aufgedeckt, dass Teslas eigentlich rollende Spionagevorrichtungen sind, die ihre Insassen und die Umgebung permanent überwachen – und die Daten für alle möglichen Zwecke verwendet werden können. Wir erinnern uns: Damals galten die E-Autos von Elon Musk noch als hippe Lifestyle-Accessoires aus Kalifornien. Ein Jahr später wurde durch die BigBrotherAwards bekannt, dass die Firma Doctolib über ihr Terminportal für Ärzte die Daten von zigtausend ahnungslosen Patient.innen abgreift. Ein krasser Verstoß gegen die ärztliche Vertraulichkeit.
Die Innenminister haben quasi ein Abo auf einen BigBrotherAward. Seit den Anfängen der Verleihung sind immer neue Überwachungsgesetze beschlossen worden. Um da etwas zu bewegen, mussten wir Großdemonstrationen wie „Freiheit statt Angst“ und Verfassungsbeschwerden gegen die Vorratsdatenspeicherung organisieren. Das brauchte einen langen Atem, aber war letztlich erfolgreich.
Die BigBrotherAwards zeigen Wirkung
Überhaupt haben unsere BigBrotherAwards jede Menge echte Änderungen angestoßen: Wir haben Gesetze beeinflusst, Ministerinnen mussten gehen, Datenklau wurde gestoppt, Firmen verloren Aufträge oder mussten ihr Geschäftsmodell ändern.
Unsere Positionen zu RFID-Chips sind in die europäische Gesetzgebung eingeflossen. Die MetroAG zog die verwanzte Karte zurück. Ein Erfolg, der viele beflügelte – und gezeigt hat, dass Widerstand nicht zwecklos ist. Der Spiegel schrieb damals: “Es ist ein ungleicher Kampf – eine Handvoll ehrenamtlicher Enthusiasten (…) gegen milliardenschwere Konzerne – doch er zeigt Wirkung.“
Die Firma CSC, deren Mutterkonzern beste Kontakte zu US-Geheimdiensten hat und Entführungsflüge organisiert hat, hat nach dem BigBrotherAward etliche Aufträge von öffentlichen Stellen in Deutschland verloren. Und unsere Laudatio für die baden-württembergische Bildungsministerin Eisenmann wegen des Plans, Microsoft 365 an Schulen einzuführen, wurde im Bildungsausschuss wörtlich zitiert. Die Ministerin wurde nicht wiedergewählt.
Jüngstes Beispiel: Nachdem wir der Bahn 2024 einen BigBrotherAward für eine Vielzahl von Datenschutzsünden verliehen haben, nahm der Hessische Datenschutzbeauftragte Alexander Roßnagel die Deutsche Bahn aufs Korn – mit Erfolg: Die DB darf jetzt nicht mehr E-Mail-Adresse oder Handynummer verlangen, wenn man ein Sparpreisticket im Reisezentrum kauft. Wegen der Tracker im DB-Schnüffelnavigator klagt Digitalcourage vor dem Landgericht Frankfurt gegen die Bahn.
Welche Momente wir unseren Preisträgern verdanken
Die meisten Preisträger reagieren auf den BigBrotherAward mit dem klassischen Dreiklang: Ignorieren, Abstreiten, Abwiegeln. Politiker sind geübt darin – die Public-Relations-Abteilungen von Firmen auch. Die Aufregung hinter den Kulissen ist derweil oft groß, besonders bei Behörden und Firmen beginnt die fieberhafte Suche nach der „undichten Stelle“. Egal, ob Firma oder Politiker: Die Preisträger sind durch die Bank wenig erfreut über ihre Auszeichnung. Sie kommen auch eher selten zur Preisverleihung.
Erstaunliche Ausnahme: Microsoft flog 2002 seinen Datenschutzbeauftragten ein, der den Preis fürs Lebenswerk entgegennahm. Auch die Deutsche Telekom hatte 2008 den Mut, den Preis abzuholen. Tatsächlich erkundigte sich die Telekom sogar schon Monate vorher diskret bei uns, ob sie etwa einen BigBrotherAward bekommen würde – „sie könnten sich vorstellen, dass sie ihn verdient hätten...“
Überhaupt haben uns einige der Ausgezeichneten Momente fürs BBA-Erinnerungsalbum beschert. Da war das Einschreiben von Firma Lidl, die uns am Morgen der Verleihung mit Klage drohte, falls wir den Preis an sie verleihen würden. Wir haben ihn natürlich trotzdem verliehen, weil wir sicher waren, dass unsere Recherche wasserdicht war. Es kam keine Klage. Gleiches passierte im Fall der Religionsbehörde Ditib, die wir für die Bespitzelung von Gemeindemitgliedern durch Imame im Auftrag von Staatschef Erdoğan mit einem BigBrotherAward ausgezeichnet haben.
Oder der BigBrotherAward, den wir einmal einem Preisträger hinterhergetragen haben: Die kritischen Aktionäre hatten uns zur Hauptversammlung der Bayer AG nach Köln eingeladen. Und uns Aktien übertragen. Damit hatten wir Rederecht auf der Aktionärsversammlung. So kam es, dass Rena Tangens dort vor Bayer-Aktionären und Vorstand zum Thema „freiwillige" Urinproben von Auszubildenden zwecks Drogenkontrolle sprechen konnte. So ziemlich die feindseligste Atmosphäre, in der je ein BigBrotherAward übergeben wurde.
Doch die Bayer AG blieb nicht die einzige Preisträgerin, der wir zur Auszeichnung hinterher gereist sind: So auch der Chefin der Irischen Datenschutzbehörde, Helen Dixon. Der haben wir den BigBrotherAward für ihr Lebenswerk (erfolgreich europäisches Datenschutzrecht zu sabotierne und eine Steueroase für US-Konzerne zu schaffen) persönlich in Dublin vorbeigebracht. Sie war zwar nicht persönlich anwesend. Aber ein freundlicher Mitarbeiter vor Ort versicherte uns, das sei nicht ungewöhnlich: „Die ist oft nicht da.“ Ihr verdienter Preis ist jedenfalls angekommen.
Unabhängig – und fit für die Zukunft
Nicht zuletzt schaffen die BigBrotherAwards ein Bewusstsein dafür, dass wir Rechte haben. Auch und gerade im Digitalen. Rechte, die unverkäuflich sind und für deren Schutz wir alle etwas tun können. Das kommt bei immer mehr Menschen an, die bereit sind, sich zu engagieren und ihre Stimme zu erheben. Gegen Digitalzwang, Deutsche Bahn-Tracking, Schnüffeltechnologie im öffentlichen Raum, Chatkontrolle oder andere staatliche Überwachung, gegen die wir uns als Digitalcourage wehren. Die Resonanz auf unsere Kampagnen zeigt: Datenschutz ist ein brennendes Thema.
Wir sind stolz darauf, dass wir unabhängig geblieben sind. Digitalcourage bekommt kein Geld von Ministerien und akzeptiert kein Sponsoring von Firmen. Die BigBrotherAwards finanzieren wir über Spenden und Fördermitgliedschaften. Mittlerweile nähern wir uns der Zahl von 5000 Mitgliedern.
Bei der Verleihung der BigBrotherAwards sind in diesem Jahr zum ersten Mal auch Jugendliche mit eigenen Beiträgen auf der Bühne. Anders als allgemein angenommen, interessieren sie sich durchaus für Datenschutz und dafür, was hinter Technik steckt. Das sind gute Nachrichten. Denn wir brauchen diese junge Generation. Wir brauchen so viele Verbündeten wie möglich, um auch weiter wirksam gegen Überwachungsgesetze, gefährliche Technologien und übergriffige Konzerne kämpfen zu können.