Raus aus der Abhängigkeit von Big-Tech
Die Luft ist stickig, der große Saal der re:publica voll besetzt, das Interesse groß. Vielen bleibt nur ein Stehplatz. Auftritt des neuen Digitalministers, der erste vor großem Fachpublikum. „Es geht um digitale Souveränität“, liest Karsten Wildberger vom Blatt. Die Rede klingt gut. Zu gut. Sein Vortrag dagegen wirkt hölzern. Man ahnt: Nicht er hat sie geschrieben, sondern jemand, der genau weiß, wie man die Digitalcommunity auf der re:publica bezirzt.
Die Szene steht sinnbildlich für den Zustand der deutschen Digitalpolitik: große Worte, wenig Wandel. Selbst das eigens geschaffene – und lang ersehnte – Digitalministerium produziert bisher vor allem heiße Luft. Statt eigene Dienste aufzubauen, lagert der Staat weiter an US-Konzerne aus. Ausgerechnet jetzt, wo die USA politisch ins Autoritäre kippen.
Digitale Abhängigkeit macht erpressbar
Politische Entscheidungsträger.innen müssen verstehen: Digitale Dienste und Infrastrukturen aus den USA können jederzeit zum Druckmittel werden. Smartphones, Cloud, KI und Betriebssysteme aus Übersee sind zur Achillesferse europäischer Demokratien geworden – ein Einfallstor für politischen und wirtschaftlichen Zwang. Wenn ein großer Anbieter seine Dienste einschränkt oder abstellt, können ganze Bereiche von Verwaltung, Bildung oder Militär lahmgelegt werden.
Dass wir ausgeliefert sind, zeigt ein Blick zurück: Nach den Enthüllungen von Edward Snowden wurde bekannt, dass US-Geheimdienste sogar das Handy der Bundeskanzlerin überwachten. Selbst dieser beispiellose Eingriff in die Souveränität führte politisch zu – nichts. Statt Konsequenzen zu ziehen, vertraut Deutschland weiterhin aus angeblicher Alternativlosigkeit auf Technik derer, die uns ausspionieren.
Die Bundeswehr baut ihre Cloud-Infrastruktur gemeinsam mit Google auf. Gleichzeitig kooperiert das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) mit Google, um angeblich „sichere und souveräne“ Cloudlösungen für Behörden zu entwickeln.
Das ist ein fundamentaler Denkfehler: Aufgrund von US-Gesetzen kann Google keine Datensouveränität garantieren. US-Geheimdienste dürfen jederzeit auf gespeicherte Daten zugreifen – ohne dass Betroffene jemals davon erfahren. Wir warnen seit vielen Jahren vor dieser Gefahr, aber unsere Warnung wurde oft als übertrieben abgetan. Im Juni 2025 bestätigte ausgerechnet Anton Carniaux, Chefjustiziar von Microsoft France, vor einem Parlamentsausschuss: Ja, Microsoft kann nicht ausschließen, dass Daten europäischer Bürgerinnen an US-Behörden weitergegeben werden – selbst dann nicht, wenn diese Daten ausschließlich in Rechenzentren in der EU gespeichert sind.
Leere Versprechen statt echter Strategie
Trotz solcher Fakten stärken deutsche Behörden mit diesen Kooperationen die Marktmacht US-amerikanischer Konzerne – und schwächen europäische Anbieter. Deutschland macht sich digital abhängig – und damit politisch erpressbar. Auch im Bildungsbereich werden Schulen zwischen Apple und Microsoft aufgeteilt, oft ohne rechtssichere Vergaben und ohne eine Risikobewertung.
Die Netzstrategie 2030 verspricht digitale Souveränität, eine Multi-Vendor-Strategie und bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Doch Open Source bleibt außen vor. Millionen fließen in proprietäre US-Lösungen, während europäische Alternativen übergangen werden.
Dabei gibt es längst funktionierende europäische Angebote: Nextcloud im Rahmen von Gaia-X, große europäische Rechenzentren, spezialisierte KI von DeepL oder Linux als Betriebssystem – München hat es vorgemacht. Europa hat Know-how, Infrastrukturen und innovative Unternehmen. Was fehlt, ist der politische Wille, sie konsequent zu fördern.
Zeit für einen Kurswechsel
Digitale Souveränität ist das Gebot der Stunde, die Abhängigkeit von Big Tech soll beendet werden. Das geht aber nur, wenn wir die Netzstrategie 2030 konsequent umsetzen, die DSGVO einhalten und den Digital Markets Act durchsetzen. Digitale Souveränität heißt: Kontrolle behalten und selbstbestimmt handeln. Naivität, Lobbyismus und blindes transatlantisches Vertrauen führen in die geopolitische Zerreißprobe – nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte EU. Der Zolldeal mit Trump hat gezeigt, wie verletzlich Europa ist.
Auch wirtschaftlich ist der Wechsel überfällig: Open-Source-Lösungen wie Linux könnten Lizenzkosten massiv senken – im Gegensatz zu den hohen Gebühren für Microsoft-Produkte. Die Förderung europäischer Alternativen wäre ein Konjunkturprogramm für unsere eigene Wirtschaft.
Wir warnen seit Jahrzehnten vor blindem Vertrauen in US-Dienste. Die Alternativen liegen seit Jahren auf dem Tisch. Wer digitale Souveränität wirklich will, muss sie bauen – nicht nur beschwören. Dass Digitalministerium und sein erster Amtsinhaber stehen jetzt vor der Chance, mehr zu hinterlassen als wohlklingende Reden. Karsten Wildberger kommt aus der Wirtschaft, die sich selbst gern als innovativer und tatkräftiger als der Staat darstellt. Wenn das stimmt, dann ist jetzt der Moment, es zu beweisen. Andernfalls wird sich auch dieses Ministerium in eine lange Liste verpasster Gelegenheiten einreihen.