Videoüberwachung
Die Wiedergeburt des Untoten „Videoüberwachung“ beginnt mit der Zeile 2851 des Koalitionsvertrags: „Unter bestimmten, eng definierten Voraussetzungen bei schweren Straftaten, wollen wir den Strafverfolgungsbehörden eine retrograde biometrische Fernidentifizierung zur Identifizierung von Täterinnen und Tätern ermöglichen“. Das klingt vielleicht harmlos, ist es aber nicht: Dahinter steckt nichts anderes als die Vision eines Staates, der mit KI und Kamera auf Verdacht Gesichter scannt, Bewegungen analysiert und Persönlichkeitsrechte pulverisiert. Dazu will die Regierung nicht nur neue Kameras an „Kriminalitätsschwerpunkten“ installieren, sondern setzt bei der Analyse der Videos auch gezielt auf KI-Systeme. Denn Künstliche Intelligenz soll eine „automatisierte Datenrecherche und -analyse“ ermöglichen, indem sie Videomaterial mit „öffentlich zugänglichen Internetdaten“ abgleicht. Der gläserne Mensch war einst ein dystopisches Hirngespinst, jetzt ist er Regierungsprogramm.
Gefahren und Kritik
Die Forderung nach mehr Videoüberwachung im neuen Koalitionsvertrag ist dabei so alt wie das Pochen auf ‚mehr Sicherheit‘. Jahrzehntelang wird behauptet, Kameras verhinderten Verbrechen. Doch wenn irgendwo eine Kamera hängt, passiert vor allem eins: Menschen werden überwacht. Und wer entscheidet, welche öffentlichen Plätze Kriminalitätsschwerpunkte sind? Schwarz-Rot bleibt zu viele Antworten schuldig, als dass eine verstärkte Videoüberwachung zu rechtfertigen wäre.
Seit dem Hype um Künstliche Intelligenz ist Videoüberwachung außerdem untrennbar mit biometrischer Fernidentifizierung verbunden. Das bedeutet, dass den Bildern von Überwachungskameras KI-gestützte Programme vorgeschaltet werden können, um bei einer hohen Materialmenge Personen schnell anhand ihrer biometrischen Merkmale ausfindig zu machen. Doch solche Programme machen nicht nur die Aufklärung von Straftaten effektiver, sondern auch eine anlasslose Massenüberwachung.
Und selbst im tatsächlichen Strafvollzug weisen KI-Systeme erhebliche Mängel auf, die schlussendlich zu Einschränkungen von Grundrechten führen, weil sie bestimmte Personengruppen diskriminieren. Die Künstliche Intelligenz, mit der biometrische Überwachungssysteme Personen analysieren und bewerten, trägt die Voreingenommenheit ihrer Programmierer.innen und der Daten, mit der sie „trainiert“ wurden, in sich. Studien zeigen: Frauen, Schwarze Menschen, People of Color – sie alle werden öfter falsch erkannt. In den USA hat das längst zu Verhaftungen Unschuldiger geführt. Und Schwarz-Rot will genau dieses System importieren.
Zwar lässt die KI-Verordnung der Europäischen Union – nach intensiver Einflussnahme einiger Mitgliedsstaaten und Privatunternehmen – durchaus Raum für eine KI-gestützte biometrische Fernidentifizierung an Kriminalitätsschwerpunkten, doch stößt eine tatsächliche Umsetzung, so wie sie sich die zukünftige Bundesregierung vorstellt, auf andere juristische Hindernisse. Um eine biometrische Fernidentifizierung effektiv umsetzen zu können, möchte nämlich Schwarz-Rot Videomaterial mit eigens dafür angelegten Gesichtsdatenbanken abgleichen. Nach Artikel 5 1(e) der KI-Verordnung gilt das Erstellen solcher Datenbanken als verbotene Praktik und verstößt somit gegen europäisches Recht. Es lässt nichts Gutes verhoffen, dass jetzt schon in Regierungskreisen Stimmen laut werden, die fordern, deshalb die KI-Verordnung aufzuweichen.
Die Überwachungszombies kehren zurück
Was bisher geschah
Der Kampf von Digitalcourage gegen eine zunehmende Massenüberwachung ist ein alter. Schon 2002 gingen wir auf die Barikaden, als uns in einem „Modellprojekt Videoüberwachung“ etliche im Ravensberger Park Bielefeld direkt vor die Haustüre geschraubt wurden. Schlussendlich versandete dieses Pilotprojekt zu stärkerer Massenüberwachung, der Grund: Die eigens dafür angebrachten Kamerasystemen reduzierten die Kriminalitätsrate nicht.
Auch deshalb schlossen uns schließlich dem Bündnis #ReclaimYourFace an, einer europäischen Bürger.inneninitiative, die für eine Zukunft ohne biometrische Massenüberwachung kämpft. Wir wollen ein Europa ohne automatisierte Gesichtserkennung, ohne Körperscans, ohne Stimmerkennung. Für uns sind diese Praktiken mit einer demokratischen Gesellschaft nicht vereinbar.
Einen Teilerfolg erzielten wir dann 2023. Vor den anstehenden Verhandlungen zur europäischen KI-Verordnung stimmten die EU-Abgeordneten für die Forderung von unserem Bündnis #ReclaimYourFace. Damit war zumindest eine der drei sogenannten Trilogsparteien überzeugt. Doch der Rückschlag kam sofort: Kommission und Rat übergingen die Position des Parlaments. Und so fanden sich im tatsächlichen KI-Gesetz etliche Hintertüren, über die staatliche Behörden nun doch biometrische Massenüberwachung einsetzen dürfen.
Verantwortlich für diese Niederlage war auch die Ampel-Regierung. Während sie sich zu Beginn der Legislatur noch für ein Verbot von biometrischer Massenüberwachung aussprach, entwickelte sie sich im Zuge der europäischen KI-Verhandlungen zum größten Fürsprecher für eine Aufweichung des Gesetzes. Wir riefen deshalb zu einer Kundgebung auf dem Hansaplatz in Hamburg auf, denn: „Die Stadt gehört uns allen!“
Wie geht es weiter?
Die Forderung nach Massenüberwachung war immer da, durch die Möglichkeiten von KI-gestützter Identifizierungssoftware hat sie nun aber eine neue Intensität erreicht. Für einen Untoten war die Videoüberwachung schon immer sehr lebendig. Dennoch gibt der aktuelle Koalitionsvertrag keinen Grund zur Hoffnung. Im Gegenteil, Schwarz-Rot legt noch einmal nach. Nicht nur wollen sie ein sowieso schon abgeschwächtes KI-Gesetz noch weiter aushöhlen, sondern durch die Erstellung von Gesichtsdatenbanken sogar brechen. Das ist auch der Grund, warum die KI-Verordnung der Europäischen Union unser stärkster Verbündeter gegen Massenüberwachung bleibt. Diese Verordnung müssen wir stärken, um die Überwachungsfanatiker in der schwarz-roten Regierung in die Schranken zu weisen.
Auch die zukünftige Opposition im Bundestag hat längst Kritik an der neuen Regierung geäußert. Grüne Politikerinnen sehen im Ausbau der Videoüberwachung einen „schleichenden Abbau bürgerlicher Freiheiten“, die Linken sprechen von einem „monströsen Überwachungspaket“. Kritisiert wird der Koalitionsvertrag aber auch von netzpolitik.org und heise.de. Letzteres hält die Vorstellungen der Regierung für die „Normalisierung von Überwachungsinstrumenten“. Ähnlich klingt es bei AlgorithmWatch, auch sie warnt vor der Diskriminierung durch KI-gestützte Videoüberwachung.
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