Die Reichweitenlüge
Das riesige Fußballstadion ist vollbesetzt. Das Mikrofon liegt in Ihrer Hand. „Wenn Sie dort rein sprechen“ – so hat man es Ihnen immer wieder erklärt – „erreichen Sie besonders viele Menschen.“ In Wahrheit aber ist das Mikro nur für die Reihen eins bis drei freigeschaltet. Von den 80.000 Anwesenden hört Sie tatsächlich kaum jemand.
So funktioniert das bei allen sozialen Medien mit Algorithmus. Es gibt nur einen Unterschied: Sie merken nicht, dass Sie kaum jemand hört und denken, Sie hätten mordsmäßig viele Leute erreicht. Denn die Reichweitenlüge, ein Begriff, den unser Gründungsmitglied padeluun geprägt hat, ist tief in unseren Überzeugungen angelangt.
Follower sind nicht gleich Follower
In jeder Diskussion über die Probleme der giergetriebenen sozialen Medien kommt irgendwann das Reichweiten-Argument: Da sind halt alle und dort müsse man die Menschen abholen und man tue sich ja keinen Gefallen, wenn man im Fediverse in einer Nische hockt. Dabei passiert ein grundlegender Fehler: Man darf nämlich die Follower im Fediverse nicht mit jenen auf Instagram oder X gleichsetzen. Bei Letzteren sagt es nämlich gar nicht so viel aus, wie wir denken. Denn die eigenen Follower kriegen nicht alle eigenen Posts eingeblendet. Auch da entscheidet der Algorithmus mit. Deshalb spreche ich im Fediverse gerne von „Qualitätsfollowern“. Denn die kriegen ausnahmslos alle Nachrichten angezeigt. Vielleicht erklärt sich auch so, weshalb Digitalcourage dort mit viel weniger Boosts (so nennt man dort die Shares bzw. Retweets), so viel mehr Antworten erhält.
Als X noch Twitter hieß und Digitalcourage dort auch noch einen aktiven Account betrieb, haben wir das selbst erlebt: Während unsere Inhalte im Fediverse mit deutlich weniger Followern lebhaft geteilt und kommentiert wurden, versandeten die gleichen Beiträge unseres (damals) erheblich followerstärkeren Twitter-Accounts. Follower meldeten uns immer wieder: „Wir haben eure Posts gar nicht gesehen.“ Mit einem Viertel an Followern erhielten wir im Fediverse doppelt so viel Aufmerksamkeit. So viel zur angeblich ach so viel größeren Reichweite auf Twitter. Der Algorithmus hatte uns einfach ausgeblendet. Aber wie lässt sich das belegen oder sichtbar machen?
Was viele nicht bedenken: Wenn mir der Algorithmus bestimmte Inhalte zeigt, bedeutet das gleichzeitig, dass er mir andere unterschlägt.
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Erfolg als Illusion
Außerdem sehen wir ja immer nur die wenigen Erfolgsstories, die von der manipulierten Öffentlichkeit profitieren. Wir blenden dann schnell aus, dass es sich um seltene Ausnahmen handelt – um die Überlebenden einer gigantischen Auslese. Was nach allgemeinem Erfolg aussieht, ist in Wahrheit nur der „Survivorship Bias“: Wir sehen die paar Accounts, die dank Algorithmen durch die Decke gehen, und vergessen die unzähligen, die im Schatten bleiben. Da wollen wir natürlich dazu gehören. Genau mit diesem Trick füttern uns die giergetriebenen sozialen Medien – sie zeigen uns die Stars, damit wir glauben, alle könnten so glänzen.
Unzumutbare Spielregeln
Das ist allerdings eine Lüge. Denn das Versprechen der großen Reichweite entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Scheinriese. Eine große Reichweite erreichen Sie dort nur dann, wenn Sie bereit sind, sich den Spielregeln der Plattformen zu unterwerfen:
- Wenn sich Ihre Inhalte gut kommerzialisieren lassen, also seicht, gefällig und bloß nicht zu intelligent sind.
- Wenn Sie bezahlen – Reichweite gegen Geld geht immer.
- Wenn Sie Inhalte auf Klick-Format eindampfen, bunt bebildern und dauernd Content rauspusten.
- Wenn Sie besonders pointiert, polarisierend oder wutträchtig posten.
- Wenn Sie alles bis zur Unkenntlichkeit verkürzen, keine Links setzen und sich an einer unkonstruktiven Diskussionskultur beteiligen.
- Und wenn es Sie nicht stört, in rechtsextremer Gesellschaft zu posten, deren Inhalte stets viel mehr Reichweite kriegen werden.
Für alle anderen ist die Reichweite sehr viel kleiner, als es den Anschein hat. Lange, differenzierte oder ausgewogene Inhalte lassen sich nicht gut monetarisieren – und werden oft einfach nicht angezeigt. Das angeblich so große Reichweitenpotential steht Ihnen dann schlicht nicht zur Verfügung.
Retorten-Reichweite
Hinzu kommt: Die hohen Nutzendenzahlen dieser Plattformen sind vor allem Potential – aber nicht Realität. Wer tatsächlich viele Menschen erreicht, entscheidet allein der Algorithmus. Und in diesen Zahlen stecken ohnehin massenhaft Bots, Karteileichen, Spam-Accounts und Trolle, die Hassnachrichten verbreiten. Die schöne große Bühne ist in Wahrheit vollgestopft mit Geisterpublikum.
Das mit der Reichweite ist eine große Lüge. Wir lassen uns von Zahlen blenden, die genau gar nichts aussagen. Am Ende bleiben giergetriebene soziale Medien das, was sie sind: Manipulationsmaschinen, die uns glauben machen wollen, wir sprächen ins volle Stadion – während sie heimlich die Lautsprecher nur für bestimmte Reihen anschalten.
Die Reichweite ist nicht groß. Sie ist frisiert: abhängig von der Gnade jener Konzerne, die davon profitieren, uns gegeneinander aufzuhetzen.
Ehrliche Reichweite gibts im Fediverse
Dann doch lieber ins Fediverse: Da sind zwar in absoluten Zahlen aktuell noch weniger Leute unterwegs. Doch eine Community, die ich mir dort aufgebaut habe, wird mir erhalten bleiben und es gibt keinen Algorithmus, der sich zwischen mich und meine Leser.innen stellt und meine Nachrichten verschwinden lässt, weil sie nicht hasserfüllt genug sind.