Bundesregierung will EU-weite Vorratsdatenspeicherung

Wir machen die Position der Bundesregierung zur Vorratsdatenspeicherung vor dem EU-Gerichtshof öffentlich. Wir widersprechen Berlin in allen Punkten und warnen vor dieser Art von Politik und Gesetzgebung.
Digitalcourage, CC-BY-SA 4.0

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Dokument befreit, kommentiert und veröffentlicht
Mit einer Transparenz-Anfrage via fragdenstaat.de haben wir nach der Position der Bundesregierung zur Vorratsdatenspeicherung verlangt, die sie Anfang September 2019 bei mündlichen Verhandlungen vor dem EU-Gerichtshof geäußert hat. Erhalten haben wir die schriftliche vorbereitende Unterlage für die Anhörung (PDF). In diesem Artikel kritisieren wir die Argumente der Bundesregierung bei der mündlichen Verhandlungen vor dem Gerichtshof der Europäischen Union am 9. September 2019 in den Rechtssachen C-623/17, C-511/18, C-512/18 und C-520/18.

1. Vorratsdatenspeicherung und Geheimdienste

Im September 2019 wurde in einer Anhörung vor dem EU-Gerichtshof die Befugnisse der Nachrichtendienste im Fall der Klage der britischen Grundrechteorganisation Privacy International (C-623/17) diskutiert: Nach Ansicht der Bundesregierung macht es einen Unterschied, ob

„Daten unmittelbar vom Staat gespeichert werden, oder ob die privaten Betreiber von Kommunikationsnetzwerken dazu verpflichtet werden, Daten auf Vorrat zu speichern.

Der juristische Unterschied liegt in der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (2002/58). Diese Richtlinie enthält eine Ausnahme für Daten, die unmittelbar vom Staat gespeichert werden, wie etwa die von Geheimdiensten. Kurz gesagt: Geheimdienste dürfen die Privatsphäre von Menschen ignorieren. Aus Sicht von Digitalcourage macht es aber für die betroffenen Menschen keinen Unterschied, ob ihre Daten vom Staat mittelbar oder unmittelbar gespeichert werden. Anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist in beiden Fällen grundrechtswidrige pauschale Massenüberwachung.

Juristischer Streit um Massenüberwachung

Die EU-Kommission ist in diesem Fall der Ansicht, dass die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation dennoch anzuwenden ist, weil die privaten Kommunikationsanbieter die Daten an die Nachrichtendienste weiterleiten. Die Bundesregierung hat sich in der Anhörung auf die Seite der geheimdienstlichen Massenüberwachung gestellt und erklärt: „Dies überzeugt die Bundesregierung nicht.“

Art. 1 „Geltungsbereich und Zielsetzung“ Abs. 3 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation lautet:

„Diese Richtlinie gilt (…) auf keinen Fall für Tätigkeiten betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates (einschließlich seines wirtschaftlichen Wohls, wenn die Tätigkeit die Sicherheit des Staates berührt) und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich.“

Es gibt keine guten Gründe für Massenüberwachung

Aus Sicht von Digitalcourage sind im oben angerissenen juristischen Streit um Geltungsbereiche von Datenschutzgesetzen vier Punkte wesentlich:

  1. Der hauptsächliche Sinn und Zweck der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation ist der „Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere des Rechts auf Privatsphäre“. Sinn und Zweck der Richtlinie – und Aufgabe von Rechtstaaten – ist der Schutz der Bevölkerung vor anlassloser Überwachung. Für Überwachung, die als Sicherheit verkauft wird, darf es keine Ausnahmen bei Grundrechten geben.
  2. Die Menschen in Europa, das EU-Parlament, die EU-Kommission und der EU-Gerichtshof sollten bei der Debatte um Sicherheit und Privatsphäre bedenken: Die Enthüllungen von Edward Snowden und auch die parlamentarischen Untersuchungen zu den Morden des NSU [1] und des Terror-Angriffs von Anis Amri haben gezeigt, dass Geheimdienste ein Sicherheitsproblem sind.
  3. In der Demokratie soll die Regierungen nicht die Bevölkerung mit immer komplexeren Instrumenten kontrollieren und überwachen, sondern gute Lösungen für das Allgemeinwohl finden. Gesetzliche Hintertüren und Ausnahmeregelungen wie Art. 1 Abs. 3 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation fördern hingegen Überwachung, schaffen aber keine Sicherheit.
  4. Seit Jahrzehnten steigt der Überwachungsdruck gegen die rechtskonform lebende Bevölkerung. Für die Menschen ist es dabei egal, ob es sich um staatliche oder private Überwachung oder eine Mischung handelt. Der Überwachungsdruck ist bereits zu hoch. Ausnahmen wie Art. 1 Abs. 3 sind bereits überstrapaziert. Notwendig sind Freiheitsgesetze.

Zweifach falsch: Spiel über Bande mit Geheimdiensten

Die Bundesregierung argumentierte im September vor dem EU-Gerichtshof: „Nachrichtendienste (…) sind ein besonders sensibler Bestandteil der Abwehrfähigkeit eines Staates.“ Digitalcourage ist anderer Meinung, denn die Abwehrfähigkeit eines Rechtsstaats liegt in dessen Prinzipien: Gewaltenteilung, Freiheit und Verhältnismäßigkeit. Die Abwehrfähigkeit darf diese Prinzipien nicht auf Kosten der Grundrechte der rechtstreuen Bevölkerung unterlaufen. Mit Verweis auf die rechtswidrige Überwachung und die Verstrickungen in die Morde des NSU [1] fordert Digitalcourage: Die aktuellen Geheimdienste müssen abgewickelt und neue, rechtsstaatliche Strukturen müssen aufgebaut werden.

Die Bundesregierung erklärte vor dem EU-Gerichtshof, dass die Regierungen der EU-Länder eine Einschränkung der geheimdienstlichen Überwachung der Bevölkerung als „Angriff auf den Kernbereich ihrer Eigenstaatlichkeit“ werten würden. Digitalcourage und zahlreiche andere Grund- und Menschenrechtsorganisationen bewerten die geheimdienstliche Überwachung der Bevölkerung als Angriff gegen den Kernbereich des Verhältnisses von Staat und Bürgerinnen und Bürgern.

2. Vorratsdatenspeicherung, Strafverfolgungsbehörden und Polizei

In den Fällen von La Quadrature du Net, der Kammer der französisch- und deutschsprachigen Rechtsanwaltschaften und anderen (C-511/18, C-512/18 und C-520/18) diskutierte der EU-Gerichtshof die Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten in Zusammenhang mit Strafverfolgungsbehörden und Polizei.

Geheimdienst-Entführung rechtfertigt keine Massenüberwachung

Hierzu argumentiert die Bundesregierung mit der Entführung zweier vietnamesischer Staatsangehöriger am 23. Juli 2017 in Berlin durch den vietnamesischen Geheimdienst:

„Die Aufklärung gelang nur durch den Rückgriff auf gespeicherte Telekommunikationsdaten und glich einem Puzzlespiel. Die Ermittlungsbehörden gingen davon aus, dass die Opfer vor der Tat von den Tätern eine Zeit lang beobachtet wurden. Über Kreditkartendaten und die Hoteladresse konnten Orte ermittelt werden, an denen sich die Entführungsopfer in den Tagen vor der Tat aufgehalten haben. Für diese Orte wurde mit richterlicher Genehmigung eine Funkzellenabfrage vorgenommen. (…) Nachdem die ersten Mobilfunknummern der Verdächtigen bekannt waren, konnte eine weitere richterliche Verfügung erwirkt werden, um die Verbindungsdaten auszuwerten. Durch die Auswertung konnten sich die Ermittler ein Bild von dem Kommunikationsverhalten der Täter machen. Ja, sie konnten sogar erkennen, welcher der Beteiligten die Operation leitete und wo er sich dabei aufgehalten hatte. Auf diese Weise konnte einer der Tatbeteiligten in Deutschland verhaftet und verurteilt werden.“

Die Bundesregierung fordert mit diesem Beispiel den EU-Gerichtshof dazu auf, seine früheren grundrechtefreundlichen Urteile zu kippen und weiter als bisher gefasste Gesetze für anlasslose Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung zu billigen.
Aus Sicht von Digitalcourage macht der Fall zehn Punkte deutlich:

  1. Ein sehr spezieller Einzellfall als Begründung für eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung, die alle Menschen betrifft, ist keine akzeptable Basis für demokratische Gesetzgebung. Ohne empirische Belege versucht die Bundesregierung mit diesem Ausnahmefall die Überwachung von Telekommunikation aller Menschen zum Normalzustand zu machen.
  2. Eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung, wie die Bundesrepublik sie fordert, war für die Aufklärung des Falls offensichtlich nicht notwendig, denn die Anwendung des deutschen Gesetzes wurde im Juni 2017 von der Bundesnetzagentur ausgesetzt. Im Nachgang hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die Verfahren wegen Zweifeln an der Vereinbarkeit des Gesetzes mit EU-Recht an den EU-Gerichtshof gegeben.
  3. Zur Aufklärung des Falls hat in erster Linie gezielte Ermittlungsarbeit geführt – nicht anlasslose Massenüberwachung aller Menschen.
  4. Ermittlungsbehörden verfügen offensichtlich über ausreichende Rechtsgrundlagen, um beispielsweise mit Adress-, Kreditkarten- und Funkzellendaten umfangreiche Personenprofile zu erstellen.
  5. Digitalcourage hat erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit von Richtervorbehalten.
  6. Die Spionageabwehr der dafür zuständigen Behörden hat versagt. Digitalcourage fordert die Abwicklung der in weitläufige Skandale verwickelten Überwachungsbehörden und den Neuaufbau demokratisch strukturierter Strukturen.
  7. Der Fall zeigt, welche Gefahren von Geheimdiensten ausgehen. In Deutschland waren Geheimdienste aktiv bei der Verhinderung der Aufklärung der NSU-Morde beteiligt und traten als nahe Akteure im NSU-Umfeld auf, siehe BigBrotherAward 2016 an den Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“.
  8. Die Bundesregierung erkennt unserer Einschätzung nach richtig, „die möglichen Risiken umfassender Datenspeicherung für die Freiheitsrechte der Bürger.“ Die Risiken sind allerdings nicht möglich, sondern unumgänglich, weil bereits die Existenz eines Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung Freiheitsrechte untergräbt. Wer weiß, dass Kommunikationsdaten gespeichert werden, meidet womöglich bestimmte Gebiete, Demonstrationen, Gruppen, Kommunikationspartner.innen oder Verhaltensweisen. Das ist in freiheitlichen Staaten der Bevölkerung nicht zuzumuten.
  9. Die Bundesregierung fasste zusammen: „Letztendlich war es Zufall, dass die notwendigen Daten bei den Telekommunikationsunternehmen noch vorhanden waren. Aber die Aufklärung solcher Verbrechen darf nicht dem Zufall überlassen werden.“ Dem widerspricht Digitalcourage. In der digitalisierten Welt hinterlassen alle Menschen jederzeit Datenspuren, die für Ermittlungen genutzt werden. Der Nutzen von Vorratsdatenspeicherungen zur Verhinderung von Terrorismus ist nicht nachgewiesen. Die Untersuchungen der NSU-Morde [1] und des Terroranschlags von Anis Amri haben ergeben, dass die Täter behördlich bekannt waren. Fehlende Daten, fehlende Überwachungs- und Identifizierungsmöglichkeiten waren nicht das Problem für die Ermittlungsbehörden. Erläutert hat das Sascha Lobo in dem Text Klare Zahlen gegen Massenüberwachung auf netzpolitik.org.
  10. Mit einer Kleinen Anfrage der Grünen im Bundestag wollten die Abgeordneten von der Bundesregierung wissen: „Wurden die deutschen Nachrichtendienste von dem Auslieferungsersuchen der vietnamesischen Regierung bezüglich Trịnh Xuân Thanh informiert, und wenn ja, welche, wann und durch wen?“ Die Bundesregierung hat ihre Antwort als Geheimhaltungsgrad „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. Auch die Antwort auf die Frage: „Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat der BND aktuell in Vietnam?“ wurde zur Verschlusssache erklärt.

In der Vorbemerkung der Kleinen Anfrage heißt es: „In einem vom General­bundesanwalt (GBA) geführten Verfahren vor dem Kammergericht Berlin wurde nun einer der Täter der geheimdienstlichen Agententätigkeit für Vietnam und der Freiheitsberaubung in zwei Fällen für schuldig befunden. Ein weiterer, nicht vor einem deutschen Gericht stehender Tatbeteiligter soll Presseberichten zufolge zuvor an einem Deutschkurs des Bundesnachrichtendienstes (BND) teilgenommen haben. (vgl. taz.de, Zitat-Quelle: bundestag.de PDF)“

Vorratsdatenspeicherung hat in Rechtsstaaten nichts zu suchen

Grundlegend: In Demokratien und Rechtsstaaten gibt es keine legitimen Argumente für eine anlasslose Überwachung der gesamten Bevölkerung. Vorratsdatenspeicherungen von Telekommunikations-, also letztlich Aktivitätsdaten, sind Mittel von autoritären Polizei- und Überwachungsstaaten. Eine millionenfache Speicherung der Aktivitätsdaten von rechtstreuen Bürgerinnen und Bürgern ist nicht nötig und nicht verhältnismäßig.

Datenmenge: Richtiges Argument, falsche Folgerung

Auf die Frage nach der Eingriffsintensität von Vorratsdatenspeicherungen antwortete die Bundesregierung: „Die Datenmenge macht den Unterschied“ und verweist auf die Dauer der Speicherung. Aus Sicht von Digitalcourage ergibt sich die Menge der Daten vordergründig daraus, dass Kommunikationsdaten aller Menschen jederzeit erfasst werden. Der EU-Gerichtshof verlangt zur Wahrung der EU-Grundrechte-Charta eine Beschränkung der Daten auf das absolut notwendige.

Datenkategorien: verzweifelter Streit um Details

Beim Thema Datenkategorien ist die Bundesregierung der Auffassung, die Speicherverpflichtungen auf „besonders relevant[e]“ Daten zu beschränken. Dieser Ansatz ist in Form der Europol-Datenmatrix gescheitert. Die Regierungen der EU-Länder konnten sich in ihrem Überwachungsenthusiasmus nicht auf Daten einigen, die nicht gespeichert werden sollen (Digitalcourage berichtete).

3. Arbeit an EU-Vorratsdatenspeicherung sofort stoppen!

Digitalcourage ist der Auffassung: Die europäische Vorratsdatenspeicherung muss sofort gestoppt werden. Eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist mit einer demokratischen Grundordnung unvereinbar. Wir fordern:

  • Keine europaweite Vorratsdatenspeicherung! In dem zwei Jahre laufenden „Reflexionsprozess“ ist nicht ein Vorschlag gemacht worden, der unserer Einschätzung nach den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs genügt.
  • Juristische Aufarbeitung abwarten! Ein internes Arbeitsdokument des EU-Rats (analysiert auf netzpolitik.org) zeigt: In vielen Mitgliedsstaaten ist die juristische Aufarbeitung der Vorratsdatenspeicherung noch nicht abgeschlossen. In Deutschland etwa führt Digitalcourage eine Verfassungsbeschwerde gegen das entsprechende Gesetz. Solange noch Gerichte mit der Aufarbeitung bisheriger Rechtsprechung beschäftigt sind, dürfen keine neuen Vorratsdatenspeicherungen verhandelt werden!
  • Verhältnismäßige Mittel prüfen! Es gibt verhältnismäßige Alternativen zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherungen wie etwa Quick Freeze. Solche Möglichkeiten müssen angemessen geprüft werden.
  • Transparenz: Es darf keine Verhandlungen im Geheimen geben! Die Dokumente zur Vorratsdatenspeicherung müssen proaktiv veröffentlicht werden. Vorratsdatenspeicherung betrifft alle. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu erfahren, welche Grundrechtseingriffe ihr gegenüber geplant werden.

Vortrag vom 36. Chaos Communication Congress

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