Das Social Credit System: Dressur-Werkzeug für Chinas Bevölkerung

In Deutschland streiten wir uns noch über die Videoüberwachung mit Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Südkreuz. Wie weit China mit der Überwachung seiner Bürger geht, ist hier zu lesen.
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Die Flagge Chinas vor einem blauen Himmel (Froschperspektive).
Mithilfe modernster Technik überwacht Chinas Regierung die chinesischen Bürgerinnen und Bürger.Mithilfe modernster Technik überwacht Chinas Regierung die chinesischen Bürgerinnen und Bürger. Lizenz: CC0
In China wird ab 2020 verbindlich das Social Credit System (chinesisch 社会信用体系 shehui xinyong tixi) eingeführt – ein eigens für chinesische Bürger.innen erdachtes Bewertungssystem. Dafür werden sämtliche Handlungen von Personen, Ämtern, Behörden, etc. durch öffentliche Überwachungskameras, Online-Plattformen und verknüpfte Datenbanken aufgezeichnet. Anschließend werden sie von Algorithmen analysiert und bewertet. Das Benehmen schlägt sich unmittelbar in Pluspunkten (für wünschenswertes Verhalten) oder Minuspunkten (umerziehungswürdiges Benehmen) nieder. Auf einem digitalen Punktekonto, das im Internet für jeden einsehbar ist, wird angezeigt, wie es um die berechnete Vertrauenswürdigkeit und Bonität der Person bestellt ist. Die Sanktionen werden immer unangenehmer, je niedriger der Punktestand ist und sie werden in Echtzeit wirksam.

Die Menge an persönlichen Daten, die für diese Form der nahezu vollständigen Kontrolle zusammenfließt, ist gigantisch. Damit all diese Informationen gesammelt werden können, braucht es die fortschrittlichste Technik, die auf dem Markt zu finden ist. China will auch im Sektor der Künstlichen Intelligenz Marktführer werden. Und China ist zielstrebig: Chinesische Autor.innen tragen inzwischen mehr als 40 Prozent aller globalen Forschungsbeiträge auf dem Gebiet der KI bei. Damit hat sich ihr Anteil seit 2006 mehr als verdoppelt. Laut Vorgaben der Kommunistischen Partei soll Chinas KI-Industrie bis zum Jahr 2030 insgesamt 150 Milliarden Dollar wert sein. Aus der letzten Dekade lassen sich technische Neuheiten finden, die das Überwachungssystem weit effizienter machen und das große Datensammeln begünstigen.

Das Land der Mittel: Mächtige Werkzeuge zur Überwachung

Eine ausgeklügelte Software zur Gesichtserkennung ist eine dieser Neuheiten. Handys von Huawei und Vivo konnten noch vor Apple mithilfe von Gesichtserkennung entsperrt werden. Heute ist die Technik einen großen Schritt weiter. Einige wenige große Start-ups teilen den chinesischen Markt unter sich auf. Mit dabei: der chinesische Entwickler SenseTime, der mit einem jüngst geschätzten Börsenwert von über 4 Mrd. US-Dollar als eines der weltweit wertvollsten Start-Ups mit KI-Technologie gehandelt wird. SenseTime hat große Menschenmengen im Blick: Sein Videosystem analysiert laut eigenen Angaben, wohin Menschen gehen und kann daraus Tendenzen zu Menschenansammlungen berechnen - auch für die Zukunft. Falls allerdings bei größeren Menschenmengen, bei denen alle in eine Richtung gehen, jemand in die entgegengesetzte Richtung geht, wird diese Person als „unnormal“ eingestuft: Das System schlägt Alarm. 
SenseTime gibt an, über Regierungsstellen Zugang zu insgesamt 500 Millionen Gesichtern zu haben. Konkurrent Yitu, der im gleichen Sektor aktiv ist, will 1,5 Mrd. Gesichter, also die dreifache Menge, abgleichen können. 
Das Unternehmen Megvii Face++ stattet China ebenfalls mit Überwachungskameras mit Gesichtserkennungssoftware aus. Zum Beispiel den Bahnhof in Wuhan, an dem sich jeder Passagier das Gesicht scannen lassen muss, um Zutritt zu den Bahnsteigen zu haben. Der Marketingdirektor von MengviiFace++, ein junger Mann namens Xie Yinan, macht laut eigenen Angaben Polizisten aus ganz China glücklich: Dank seiner Technologie seien schon mehr 3000 Kriminelle gefasst worden, 25 Verhaftungen lange Gesuchter allein auf einer Großveranstaltung im ostchinesischen Qingdao 2017. Da die Kamerasoftware auch das ungefähre Alter einer Person feststellen kann, können in größeren Personengruppen Generationstendenzen ermittelt werden. Und Abweichler.innen.
Ein weiterer Spezialist auf diesem Gebiet ist das Unternehmen Opzoon. Ihre Software brauche laut eigener Aussage bei einer Distanz von bis zu 50 Metern einen kurzen Videoschnipsel - weniger als eine Sekunde reicht - um Personen zu identifizieren. 200 Gesichtsmerkmale würden dabei ausgewertet. Die Genauigkeit betrage schon jetzt 99%. Zahlreiche Bahnhöfe, Flughäfen, Banken, Unis und Polizeiwachen sind schon mit Opzoons Produkten ausgestattet. 
 

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Gesichtserkennung im chinesischen Alltag

Die Gesichtserkennungstechnologie ist in China schon jetzt in vielen Provinzen und Städten  großflächig im Einsatz. Manchmal bekommen es die Bürger.Innen mit. Etwa wenn am Himmelstempel in Peking auf der Toilette das Gesicht gescannt wird. Erst dann gibt der Automat nämlich die 60 cm Papier frei, die jedem zustehen. Das soll zur Sparsamkeit erziehen. Im Straßenverkehr in Shanghai wird die Gesichtserkennung ebenfalls eingesetzt. Wer ohne Führerschein fährt oder unerlaubt abbiegt, wird an der nächsten Straßenecke von der Polizei aus dem Verkehr gezogen bzw. bekommt innerhalb von Sekunden einen Strafzettel auf sein Smartphone geschickt. Im nordostchinesischen Jinan und der südchinesischen Metropole Shenzhen werden Fußgänger.innen, die bei rot über die Ampel gehen, an Straßenkreuzungen auf großen Screens mit vollständigem Namen, Gesicht und Adresse öffentlich an den Pranger gestellt („Shaming-Monitore“). Mehrere Unis überprüfen inzwischen die Anwesenheit der Studierenden per Gesichtserkennung und in Hangzhou ist die Schule Nr. 11 damit ausgestattet, um Gefühle in einer Art Frühwarnsystem über einen Monitor an die Lehrperson weiter zu geben und diese über den Interessenstand ihrer SchülerInnen zu informieren. 
Die chinesische Polizei wird mit moderner Technik ausgestattet. Seit neustem gehört eine Spezialbrille mit Gesichtsekennung dazu.Die chinesische Polizei wird mit moderner Technik ausgestattet. Seit neustem gehört eine Spezialbrille mit Gesichtsekennung dazu. Lizenz: CC0

Hightech für die Polizei

In einigen Städten bekommen Polizisten Spezialbrillen ausgeteilt, in deren Bügeln winzige Spezialkameras installiert sind. Die Brillen zeigen den Beamten dann an, wer sich in ihrem Sichtfeld befindet. Zudem benutzt die Polizei in manchen Regionen Chinas, z.B. in der westchinesischen Muslimprovinz Xinjiang, tragbare Scanner, mit denen Mobiltelefone verdächtiger Personen noch vor Ort durchsucht werden können. Und weil das den Datensammlern noch nicht reicht, wurden Autobesitzer angewiesen, GPS-Tracker in ihr Fahrzeug einbauen zu lassen. Wie Human Rights Watch berichtete, arbeiten lokale Behörden gerade an Datenbanken von DNA-Proben, Iris-Scans und Fingerabdrücken, die bei „kostenlosen Gesundheitsuntersuchungen“ entnommen werden. Ob die Patient.innen wissen, dass ihre Daten gesammelt und gespeichert werden, ist unklar.
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Profitierende Start-ups

China entwickelt weitere Produkte, mit denen die Kontrolle noch lückenloser und fehlerfreier gelingen kann. Da gibt es zum Beispiel den Softwareentwickler Watrix, der anhand von Videoaufzeichnungen Menschen identifiziert. Der Clou dabei ist, dass Watrix Personen an ihrem Gang erkennt, also anhand ihrer einzigartigen Art und Weise sich zu bewegen. „Gait-Recognition“ funktioniert - die Trefferquote liegt laut Unternehmen bei 100%. Sogar bei vermummten Gesichtern und künstlich verändertem Gang. Das Überwachungsinstrument funktioniert auf bis zu 50 Meter Entfernung bei einem Videoschnipsel von zwei Sekunden, der mindestens 60% des Körpers zeigt, so das Unternehmen. 
Ergänzend zur visuellen Identifizierungstechnik widmet sich iFLYTEK auditiven Datensätzen. Das Unternehmen arbeitet an einer digitalen Stimmdatenbank, damit die Polizei die Daten beim Abhören von Telefonaten nutzen kann, um die Sprechenden zuzuordnen. Dafür arbeitet iFLYTEK mit den drei großen chinesischen Mobilfunkanbietern (China Mobile 中国移动通信, China Telecom 中国电信, China Unicom 中国联合通信) zusammen. Mit seinen über 730 Millionen regelmäßigen Internetnutzern und 1,4 Mrd. Handys fließen in China gewaltige Datenströme, die es lediglich abzuspeichern und auszuwerten gilt. Dazu kommen Apps wie Wechat 微信 (ca. 850 Mio. Nutzer.innen) und Alipay 支付宝 (ca. 520 Mio.) , die u.a. als Finanzdienstleister empfindliche Daten sammeln. Datenschutz ist in China kein Thema. Die „Nationale Plattform für den Austausch von Bonitätsinformationen“ 全国信用信息共享平台 hat laut eigenen Angaben bereits 16,5 Mrd. personenbezogene Daten gesammelt. In der ersten Jahreshälfte diesen Jahres allein 3,3 Mrd. persönliche Informationen. In einer sogenannten „Polizei-Cloud“, einem Projekt des chinesischen Polizeiministeriums, werden zudem sämtliche Informationen über Hunderte Millionen Bürger.innen gespeichert. Krankheitsgeschichten, Essensbestellungen, Kurierlieferungen, religiöse Neigungen, Online-Verhalten, Reisedaten, GPS-Bewegungskoordinaten und biometrische Daten, Gesicht, Stimme, Fingerabdruck, etc. Und dieses alles in sich aufnehmende Datenmeer wird immer uferloser. 

Weitere Quellen

 
Smartphones liefern den Algorithmen riesige Datenmengen.Smartphones liefern den Algorithmen riesige Datenmengen. Lizenz: CC0

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