„Schutzranzen“: überwachte Grundschulkinder sponsored by VW & Co.
Hier zu den Zwischenüberschriften springen:
- Kinderüberwachung erreicht die nächste Stufe
- Wie soll das funktionieren?
- Niemand hat die Absicht, Daten an Dritte weiterzugeben…
- VW-Stadt Wolfsburg wird für ein Pilotprojekt eingespannt
- Marketingmasche: Ängste schüren.
- Wer finanziert das Projekt und mit welchen Interessen?
- Für sichere Schulwege, gegen Überwachung.
Kinderüberwachung erreicht die nächste Stufe
Es gibt viele Überwachungs-Geräte und -Apps für kontrollsüchtige Eltern. Doch der „Schutzranzen“ des Startups Coodriver GmbH legt noch einen drauf. Auf einer digitalen Karte können Eltern dann sehen, wo sich ihr Kind befindet. Die ungefähren Positionsdaten der Kinder werden aber auch über eine „Cloud“ an Autofahrer übermittelt, die die entsprechende App installiert haben. Der Autokonzern VW hält die Kinderüberwachung offenbar für eine gute Idee und gab 2016 eine Kooperation mit Coodriver bekannt. Dort heißt es, dem Konzern liege „das Thema ‚Kinder‘ sehr am Herzen, denn so können wir nun auch die schwächsten Teilnehmer im Straßenverkehr besser erkennen und schützen.“ Gemeinsam mit anderen Unternehmen wird die Volkswagen AG auf der Website von Schutzranzen als Sponsor genannt. Die beteiligten Unternehmen benutzen dabei die Ängste von Eltern um ihre Kinder, um ihnen die Überwachungstechnik schmackhaft zu machen.
Wie soll das funktionieren?
Für Kinder kann eine Smartphone-App installiert werden, die Eltern und „der Cloud“ den Standort der Kinder verrät. Das Abo kostet jährlich 12 Euro. Wer stattdessen einen GPS-Tracker haben will, muss dafür ein Pfand bezahlen. Ergänzend gibt es Apps für Eltern und Autofahrerinnen. In der Autofahrer-App werden zusätzlich Grundschulen im Umkreis angezeigt, damit auch Kinder nichtzahlender Eltern einen gewissen „Grundschutz“ genießen, so der Anbieter. Details über die verwendete Technik verrät die Website nicht. Eltern und Lehrkräfte können sich nicht tiefgehend informieren.
Unterstützen Sie die gute Sache: Freiheit, Grundrechte und Demokratie.
Viele Menschen engagieren sich bei uns in ihrer Freizeit, seien auch Sie dabei!
Bleiben Sie auf dem Laufenden über unsere Arbeit und unsere Themen.
Niemand hat die Absicht, Daten an Dritte weiterzugeben …
Die Datenschutzbestimmungen für die „Schutzranzen“-Apps und die Website wurden Mitte Januar vom Unternehmen geändert. In der neuen Version finden sich weiterhin widersprüchliche Angaben zur Datenweitergabe an Dritte. Wir fragen uns: Ja, was denn nun? Keine Datenweitergabe? Keine Datenweitergabe ohne Einwilligung? Und vor allem: Wie passt das mit der Tatsache zusammen, dass die Kinder-App Cloud-Server von Amazon in den USA kontaktiert? Wir haben in einem weiteren Artikel Datenschutz und Datensicherheit unter die Lupe genommen. Das soll aber nicht vom eigentlichen Problem ablenken: Es ist falsch, Kinder mit vernetzten Gegenständen zu überwachen.
VW-Stadt Wolfsburg wird für ein Pilotprojekt eingespannt
In Ludwigsburg werden vermutlich bereits GPS-Tracker an Grundschulen verteilt. Ab Februar soll die Überwachungstechnik in Wolfsburg an zwei weiteren Grundschulen getestet werden. Neutral informiert werden die Beteiligten nicht. Als wir bei einem Elterninformationsabend versucht haben, die Eltern über die „Schutzranzen“ zu informieren, wurden wir gebeten, sofort wieder zu gehen. Nur der Vertreter der Coodriver GmbH durfte erklären, warum Eltern bei dem Projekt mitmachen sollten. Wir durften nicht einmal Informationszettel verteilen, die wir vorbereitet hatten, um Eltern auf die möglichen Gefahren der Tracker hinzuweisen.
Marketingmasche: Ängste von Eltern schüren
Die Marketingmasche: Man wolle verhindern, dass Kindern im Straßenverkehr etwas passiert. Das bewirbt Coodriver mit irreführenden Zahlen: Alle 18 Minuten käme im Straßenverkehr ein Kind zu Schaden. Alle 18 Minuten! Das klingt schockierend. Fakten-Check: Die Zahl stimmt zwar, aber laut dem Statistischen Bundesamt saßen die meisten Kinder während der Unfälle in einem Auto. Leider auch wahr: Etwa alle 4 Tage stirbt in Deutschland ein Kind bei einem Verkehrsunfall. Das ist ein Problem. Aber GPS-Überwachung ist keine Lösung, denn:
- Nur getrackte Kinder, die ihren „Schutzranzen“ auch wirklich bei sich tragen und auf ein entsprechend ausgestattetes Auto treffen, lösen eine Warnung im Fahrzeug aus.
- Unfälle mit einem Kind, das plötzlich auf die Straße läuft, können durch GPS-Überwachung nicht verhindert werden. Das Unternehmen gibt an, Autofahrer würden in 150 m Umkreis vor Kindern gewarnt. An anderer Stelle ist von 18-50 Metern die Rede.
- Dagegen würden alle Kinder von Straßenbeleuchtung, Schülerlotsen, verkehrsberuhigten Bereichen, Geländern und breiten Gehwegen profitieren, egal, ob sie ihren „Schutzranzen“ gerade bei sich haben oder nicht.
- Es ist grundfalsch, Autofahrerinnen darauf zu konditionieren, sich auf eine App zu verlassen. Mehr Sicherheit im Straßenverkehr wird vor allem dadurch erreicht, dass Autofahrer auf die Straße achten, nicht auf ihr Smartphone oder einen ins Auto eingebauten Bildschirm.
- Nicht automatische Warnungen reduzieren Unfälle, sondern Verkehrserziehung bei Autofahrern und Kindern.
- Gewöhnungseffekte machen die Warnungen unbrauchbar: Eine Person, die täglich an einer Zone vorbeifährt, in der sich getrackte Kinder aufhalten, nimmt die Warnungen der App nach kurzer Zeit nicht mehr wahr.
- Ein IT-Fehler, ein Hacking-Angriff, ein hängengebliebenes Smartphone – und sofort ist der „Schutzranzen“ funktionslos. Digitale Überwachung schafft Abhängigkeiten. Verkehrsmaßnahmen, wie oben beschrieben, sind weniger anfällig.
- „Schutzranzen“ könnte der Beginn für eine folgenreiche Entwicklung sein: Wer in Zukunft kein funktionierendes Tracking-Gerät bei sich trägt, das mit anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren kann, haftet bei Unfällen für Sach- und Personenschäden. Großes Interesse an den Bewegungs- und Verhaltensdaten haben Versicherungen, Arbeitgeber und Datenhändler.
Wer finanziert das Projekt mit welchen Interessen?
Der Besitzer des Startups beteuert, er wolle mit dem Projekt kein Geld verdienen, auch Metadaten würden nicht monetarisiert. Eine private Leidenschaft von Eltern, die ihre Kinder vor Verkehrsunfällen schützen wollen, wie die Website behauptet? Oder steckt nicht doch eher die Unternehmenskooperation mit VW dahinter?
VW hat im März 2017 auf einer Messe sein erstes selbstfahrendes Auto vorgestellt. Für VW wäre es fatal, wenn eines dieser Fahrzeuge ein Kind überfahren würde. Besonders, weil der Ruf von VW nach der Manipulation von Abgaswerten bereits gewaltig angeschlagen ist. Helfen soll also eine Whitewashing-Kampagne, die vorgibt, Kinder im Straßenverkehr zu schützen. Gleichzeitig liefert das Projekt erste Zahlen, ob sich verknüpfte Apps und GPS-Tracker eignen, um zu verhindern, dass autonom fahrende Autos Fußgänger überfahren. VW schreibt in einer Pressemeldung: „Mittelfristig wollen die Volkswagen AG und die Coodriver GmbH gemeinsam eine Technologie entwickeln, die den ‚Schutzranzen‘ vollständig in das Anzeige- und Bedienkonzept des Fahrzeugs integriert. […] Daher ist die ‚Schutzranzen‘-App ein weiterer Baustein der künftigen intelligenten Umfelderkennungstechnologien.“
Wir verstehen etwas anderes unter „intelligent“ – Erziehung mit Respekt und Vertrauen statt Überwachung und Kontrolle zum Beispiel. Und eine Verkehrspolitik, die Fahrräder und öffentliche Verkehrsmittel attraktiver macht als den Familienwagen. Bei Firmen, die unkritisch die Digitalisierung aller Dinge vorantreiben, heißt „intelligent“ oder „smart“ hingegen meistens „vernetzt und mit Algorithmen ausgestattet, die kaum dokumentiert und schlecht implementiert sind und zu selten Sicherheits-Updates erhalten“.
Für sichere Schulwege, gegen Überwachung.
Das Problem sitzt tief: Es ist die Gier von Unternehmen nach Daten, die zu kommerzieller Überwachung führt. Die Folge sind Projekte wie „Schutzranzen“ – reale Probleme, wie Gefahren im Straßenverkehr werden nicht gelöst, sondern ausgenutzt, um Daten zu sammeln, ohne die vermeintliche „intelligente“ Geschäftsmodelle nicht funktionieren.
Wir wollen keine Welt, in der Kinder zu Objekten im „Internet der Dinge“ degradiert werden. Eltern sollen nicht entscheiden müssen zwischen „mein Kind wird von Unternehmen überwacht“ und „es hat einen gefährlicheren Schulweg“. Sichere Schulwege sind für alle Kinder möglich – ohne Überwachung.
Deshalb richten wir uns mit einem offenen Brief an die beteiligten Unternehmen und fordern: „Kinder-Tracking stoppen!“
Offener Brief an die Unternehmen: „Kinder-Tracking stoppen!“
Ähnliche Artikel
Bild: Foto von Tingey Injury Law Firm (Unsplash-Lizenz) Quelle, Montage durch Digitalcourage
PersoOhneFinger – Infomaterial
Bild: Fabian Kurz, CC-BY 4.0 (Hintergrund) | Digitalcourage, CC-BY 4.0 (Montage)