Corona und Grundrechte: Augenmaß statt Angst

Normalerweise protestieren wir als erste gegen Freiheits­beschnei­dun­gen. Diesmal nicht.

Datenschutz rettet Leben – Infektionsschutz auch

Fakt ist: Über Sars-CoV-2 ist noch so wenig bekannt, dass aktuell niemand mit Sicherheit sagen kann, wie gefährlich das Virus ist. Die Wissenschaft forscht und publiziert tagesaktuell. Wöchentlich werden neue Studien (oft vor dem Peer-Review) veröffentlicht und umgehend mit ebenso guten Argumenten angezweifelt.

Auf Basis dieser komplexen und sich rasant verändernden Faktenlage müssen Politiker.innen entscheiden: Welche Schutzmaßnahmen sind aktuell noch sinnvoll? Ist die Gesundheit der Menschen eher durch eine Covid-19-Infektion gefährdet, oder durch die Vereinzelung und die wirtschaftlichen und sozialen Schäden nach der Schließung von Firmen und Gaststätten, Läden, Schulen und Kitas?

In den vergangenen Wochen wurden unsere Freiheiten, uns zu bewegen und uns zu treffen, stark eingeschränkt. Das beobachten wir aufmerksam und diskutieren und entscheiden immer wieder, wann und wo wir uns zu Wort melden, und wo wir der Politik vorerst Zeit geben wollen, gute Entscheidungen zu finden. Wir erkennen an, dass vieles unklar ist und die Politik deshalb „auf Sicht fahren“ muss. Demokratie bedeutet, den Regierenden einen Vertrauensvorschuss zu geben, den sie derzeit dringend brauchen. Auch das gehört zu einer freien Gesellschaft.

Nun fragen uns Menschen, warum wir gerade keine Demonstrationen organisieren oder uns den Straßenprotesten anschließen.

Einer unserer Gründe: Weil wir diese Abwägung zwischen Freiheitseinschränkungen und Infektionsschutz nicht für die gesamte Gesellschaft treffen können. Ja, unsere individuelle Freiheit wird stark eingeschränkt, wenn wir wenig rausgehen sollen, Kontakte meiden und Mund-Nase-Schutz tragen sollen. Auch wir halten einzelne Maßnahmen für überzogen oder falsch. Aber wir gestehen Menschen, die Verantwortung tragen, zu, Fehler zu machen. Fehler können später korrigiert werden. Wer keine Verantwortung für andere trägt, hat leicht reden.

Die Zahlen zu Infektionen und Sterbefällen, die nach und nach immer genauer wissenschaftlich erhoben werden, zeigen aber, dass wir in Deutschland die Krise gerade ziemlich gut meistern. Nein, wir lassen damit uns nicht auf das übliche „der Zweck heiligt die Mittel“ ein, mit dem unsere Innenpolitiker.innen üblicherweise ihr Sicherheitstheater rechtfertigen. Vielmehr bestätigen diese Statistiken die Aussage der Bundesregierung, dass die meisten Einschränkungen ein sozialer, solidarischer Akt von uns allen sind. Der funktioniert.

Und jetzt mal im Ernst: Anders als z.B. in Frankreich, wo es eine strikte Ausgangssperre gibt, können wir nach draußen gehen. Und anders als in den USA, wo seit Mitte März mehr als 33 Millionen (!) Menschen durch die Folgen der Corona-Krise ihren Job verloren haben, haben wir in Deutschland ein Sozialsystem mit Kündigungsschutz, Kurzarbeitsgeld, Krankenversicherung und Einmalhilfen, auch für Solo-Selbständige. Etwas weniger Wehleidigsein und mehr Erwachsenheit würde vielen gut tun.

Wir schützen Grundrechte, weil Grundrechte Menschenleben retten. Sie sind Schutzrechte vor dem Staat. Es ist die Aufgabe eines Staates, die Menschenwürde zu garantieren – aber auch die Menschen, die darin leben, vor Gefahren für ihr Leben zu schützen. Und nicht der Staat bedroht uns gerade in erster Linie, sondern ein Virus.

Dass Grundrechte temporär eingeschränkt werden, um die Ausbreitung eines potentiell tödlichen Virus zu verlangsamen, ist sinnvoll. Worauf wir achten:

Jede Maßnahme muss nach dem aktuellen Wissensstand legitim, geeignet, erforderlich, angemessen sein – und begründet werden. Der Ausnahmezustand darf nicht zur Regel werden. Es muss immer ein Datum geben, an dem diese Einschränkung automatisch wegfällt. Wenn sich eine Maßnahme nicht bewährt oder offensichtlicher Unsinn ist, tragen wir sie nicht mit.

Mehr dazu im Statement, das wir mit mehreren Organisationen gemeinsam veröffentlicht haben: „Menschenrechte achten – Corona ist kein Freibrief“

Querfront? Ohne uns

Nicht jede Demo, die sich die Verteidigung der Freiheit auf die Fahnen schreibt, ist in unserem Sinne. Aktuell protestieren in vielen deutschen Städten Menschen gegen die Einschränkungen von Grundrechten im Zuge der Pandemie. Wir sind uns aber sicher, dass einige davon gar nicht die Freiheit meinen, die wir meinen, sondern Willkür.

Selbst wenn es nicht in der Absicht der Initiator.innen liegen sollte: Rechtsextreme versuchen, jede halbwegs erfolgreiche Bewegung zu vereinnahmen. Auf den sogenannten „Hygiene-Demos“ gegen die Corona-Beschränkungen argumentieren Menschen, sie seien doch nur „um die Freiheit besorgt“. Eigentlich aber hegen und schüren sie Verachtung gegenüber der Demokratie und gegenüber demokratischen Strukturen, gegenüber demokratisch gewählten Politiker.innen („Eliten“), gegenüber der freien Presse und der freien Wissenschaft. Das Narrativ der „besorgten Bürger“, denen nicht ausreichend zugehört wird und das schon für Pegida beansprucht wurde, setzt sich hier fort und spricht auch viele Menschen an, die sich selbst nie als „rechts“ bezeichnen würden.

Eine weitere Tatsachenverdrehung ist, dass diese Bewegung sich „Widerstand“ nennt, als ginge es um staatlich aufgedrückte Maßnahmen aus reinem Machtstreben, gegen die man sich wehren müsse, – und nicht um den Versuch, mit solidarischen Maßnahmen eine Pandemie in Schach zu halten.

Schon jetzt werden auf den „Corona-Demonstrationen“ Rechtsextreme und Vertreter.innen von kruden Verschwörungs-Fantasien gesichtet. Parolen von Rechten, Impfgegner.innen und Chemtrail-Gläubigen werden in Telegram-Gruppen usw. mindestens geduldet, wenn nicht sogar aktiv weiterverbreitet. Da wollen wir nicht mitmachen.

Wachsamkeit ist angebracht

Es ist wichtig, dass Demokratinnen und Demokraten hinterfragen, ob alle aktuellen Einschränkungen (noch) Sinn ergeben. Wachsamkeit ist angebracht.

Überwachungstechnologien, die gar nicht gegen die Ausbreitung des Virus helfen? Wir halten dagegen und bringen unsere Zweifel in die Diskussion ein.

Freiheitseinschränkungen, die für den Moment sinnvoll sind, aber irgendwann nicht mehr? Wir und andere seriös arbeitende Bürger- und Digitalrechts-Bewegungen haben ein Auge darauf.

Die Corona-Kurve flach zu halten, ist weiterhin ein Ziel, an dem wir von Digitalcourage mitwirken wollen: Aus Solidarität und Verantwortung gegenüber der Gesundheit aller. Die Lage ist für uns alle, weltweit, komplett neu. Wahrheit braucht Zeit. Diskussionen brauchen Zeit, sind vielschichtig und kompliziert. Deshalb wird Digitalcourage jetzt nicht reflexhaft nach Lockerungen schreien, sondern wir bleiben ruhig, sachlich, achtsam und wachsam. Genau dafür brauchen wir Ihre Unterstützung.

Aktuell werden wir häufig gefragt, warum wir nicht lautstärker gegen die Freiheitseinschränkungen wegen der Corona-Pandemie protestieren. Wir haben mehrere Antworten.

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