Was steht eigentlich im EuGH-Urteil?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 20.09.22 verkündet: Die aktuell in Deutschland geltende Vorratsdatenspeicherung widerspricht den Grundrechten der EU und das entsprechende deutsche Gesetz ist damit null und nichtig.
Wir begrüßen diese Entscheidung sehr und sind gespannt, wie es nun weitergeht. Denn leider wurde auch dieses Mal der Vorratsdatenspeicherung keine komplette Absage erteilt. Der EuGH lässt auch dieses Mal einige sehr enge Schlupflöcher, durch die unsere Innenministerin gerne durchschlüpfen würde.
Vielleicht kann sich die Ampel ja dennoch dazu durchringen, den unendlichen Tango der Vorratsdatenspeicherung nicht in die nächste Runde zu schicken, sondern dieses Mal gleich ein Gesetz zu formulieren, das den Anforderungen der Gerichte entspricht. Ein Gesetz, das wir nicht wieder in einem jahrelangen Prozess wegklagen müssen.
Die Begründungen des aktuellen Urteils sind übrigens identisch mit denen aus dem Urteil von 2020. Damals hatte die französische Organisation „La Quadrature du Net“ geklagt und Recht bekommen. Wenn schon das höchste europäische Gericht einfach sein Urteil von vor zwei Jahren kopiert, sollte sich die Regierung fragen, ob sie den endlosen Kreislauf der gesetzlich verordneten Grundrechtsbrechung nicht endlich beenden und uns allen eine Menge Zeit, Geld und Arbeit sparen möchte.
Aber was steht genau drin im Urteil?
Wir haben es uns für Sie mal genauer angesehen:
Der EuGH macht erneut klar, dass Grundrechte das Minimum und nicht das Maximum an Schutz für Bürgerinnen und Bürger markieren. Wir sagen nicht ohne Grund: Grundrechte sind nicht verhandelbar! Das kann man als klares Abwatschen einer Politik der dreizehn Mitgliedsstaaten sehen, die ohne Sinn und Verstand die radikalste Überwachungsmaßnahmen sucht, die der EuGH gerade noch so zulässt. Statt mit einer neuen Vorratsdatenspeicherung aufzufahren und damit das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zu brechen, sollte Innenministerin Nancy Faeser endlich an Maßnahmen arbeiten, die der Verbrechensaufklärung und der Arbeit der Ermittler tatsächlich helfen – die Vorratsdatenspeicherung leistet das nachgewiesenermaßen nicht.
Wichtige Aussagen des Urteils
Absatz 88-89: Auch die Speicherung für einen kurzen Zeitraum ist ein schwerwiegender Eingriff in die Privatsphäre der Menschen. Eine kurze Speicherdauer rechtfertigt keine anlasslose Vorratsdatenspeicherung.
Absatz 92: Definition für „nationale Sicherheit“. Damit ist wirklich „nationale Sicherheit“ im engeren Sinne gemeint. Schwere Straftaten fallen nicht darunter. Sie gefährden die öffentliche Sicherheit, aber nicht die nationale Sicherheit und sind kein legitimer Grund, eine allgemeine Speicherung aller Verbindungsdaten zu veranlassen.
Absatz 129-130: Daten, die in einer akuten Bedrohungssituation für die nationale Sicherheit gesammelt wurden (nur in solch einer Situation wäre das Speichern aller Verkehrsdaten laut EuGH gerechtfertigt), dürfen auch nur für die Aufklärung dieser Bedrohung und unter keinen Umständen für andere Zwecke verwendet werden. Auch nicht, um andere Staftaten aufzuklären. (Kein „Wo wir die Daten doch schon mal haben …“)
„Auch wenn wir Vorratsdaten nur für eine Millisekunde speichern, katapultiert uns das alle in einen Überwachungsstaat.“ (padeluun)
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Die Schlupflöcher
Das Gericht setzt grundsätzlich klare Grenzen für die Speicherung von Daten. Es lässt aber „zur Bekämpfung schwerer Kriminalität“, „unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“, bestimmte Ausnahmen zu:
Eine „gezielte Vorratsdatenspeicherung" kann mit Unionsrecht vereinbar sein. Hierbei kann sowohl ein bestimmter Personenkreis gezielt überwacht werden als auch bestimmte Orte. Beides aber nur, siehe oben, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und nur soweit es verhältnismäßig ist. Da die Vorratsdatenspeicherung fast nie wirklich hilfreich ist – der Heuhaufen wird größer, die Nadel bleibt verschollen – dürfte es nach unserer Einschätzung schwierig werden, diese Maßnahme als verhältnismäßig darzustellen. Hinzu kommt: Da diskriminierte Gruppen schon in der „normalen Polizeiarbeit“ überproportional ins Visier geraten, besteht überdies die Gefahr, dass diese auch in diesem konkreten Fall besonders häufig von dieser „gezielten Vorratsdatenspeicherung“ betroffen sind. Ein entsprechendes Überwachungsgesetz kann folglich rassistisch sein.
Eine „umgehende Sicherung solcher Daten“, also eine Sicherung von Daten im Anschluss an ein Verbrechen, kann ebenfalls rechtlich zulässig sein. Hierbei wird jedoch gerade nicht auf Vorrat gespeichert, sondern entstehende Daten „eingefroren“, bis z.B. ein richterlicher Beschluss vorliegt. Dieses Modell kennen wir unter dem Begriff „Quick Freeze“ und lehnen es nicht grundsätzlich ab. Allerdings steckt bei Quick Freeze der Teufel im Detail der genauen Umsetzung.
Eine „allgemeine und unterschiedslose Speicherung von IP-Adressen“ wurde leider als grundsätzlich zulässig gewertet und wird uns somit – so steht zu befürchten – in vielen zukünftigen Gesetzesinitiativen begegnen. Erste Bundesländer haben bereits ihr Interesse bekundet. Und auch Nancy Faeser hat schon große Pläne. Dabei besteht die Gefahr, dass derselbe alte Denkfehler gemacht wird, dem wir auch die letzten zwei Volten verdanken: Auch die Speicherung der IP-Adressen ist der oben bereits erwähnten Einschränkung „nur zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und unter strikter Beachtung der Verhältnismäßigkeit“ unterworfen. Das ist genau der Spagat, den schon Faesers Vorgänger nicht geschafft haben. Deshalb weisen wir Frau Faeser deutlich darauf hin, dass nicht die Auswertung der Daten verboten ist, sondern bereits deren Erhebung und Speicherung. Wir werden die weitere Entwicklung hier aufmerksam verfolgen und ihr, wo möglich, entschieden entgegentreten.
Wie es weitergeht
Das bisherige Gesetz ist nun nichtig. Die Bundesregierung hat aber bereits angekündigt, dass sie bald ein neues Gesetz formulieren möchte. Ob dieses erstmals die engen Grenzen der Gerichte beachtet oder wieder weggeklagt werden muss, bleibt abzuwarten. Wir empfehlen, das Gesetz zu kippen und sich für Maßnahmen einzusetzen, die den Ermittlungsbehörden wirklich helfen. Und dann auch endlich den vielen Opfern von Betrug und Stalking helfen würden.
Justizminister Marco Buschmann hat sich in seiner Pressekonferenz zum EuGH-Urteil erfreulich deutlich geäußert:
„Dass jede Bürgerin, jeder Bürger mit der Vorratsdatenspeicherung einem Ermittlungsinstrument unterzogen wird – also jeder unter Generalverdacht steht und daraus sich ein Gefühl des Beobachtetseins ergibt, das dazu führt, dass sich Verhalten verändert, dass die Spontanität unserer Kommunikation nachlässt, dass wir anfangen drüber nachzudenken: Darf ich das jetzt eigentlich sagen, darf ich das tun oder mache ich mich dadurch verdächtig? Das geht nicht in einer freien Gesellschaft! Das wollen wir nicht.“
Ob sich die Innenministerin oder der Justizminister durchsetzen wird haben wir auch als Betroffene in der Hand: Wir müssen dafür eintreten, dass der Rechtsstaat die Oberhand behält – egal welche Nebelkerzen von der Politik gezündet werden.
Wir würden uns sehr wünschen, dass endlich wirksame Maßnahmen beschlossen werden und nicht weiter auf einer völlig veralteten Vorstellung von Verbrechensbekämpfung im Internet beharrt wird. Kriminelle bewegen sich ohnehin zunehmend in Bereichen, auf die die Vorratsdatenspeicherung gar nicht anwendbar ist, und gegen die Verbreitung von dokumentiertem Kindesmissbrauch hilft vor allem eines: gut ausgebildete Ermittler.innen bei der Polizei. Mit Maßnahmen wie Quick Freeze, der Login-Falle und 24/7 besetztem Richterzimmer in den Gerichten könnte man Ideen diskutieren, die Ermittlungen auf Anlass erleichtern. Doch dazu braucht es gute Digitalkonzepte und endlich Rechtssicherheit. Der ewige Versuch, mehr herauszuholen als rechtlich zulässig ist, hat nämlich für Verbrechensopfer nur eins zur Folge: Stillstand.
In der Zwischenzeit können wir alle mal die wirklich sehr lesenswerte Kolumne von Sascha Lobo zur Vorratsdatenspeicherung mit dem Titel „Mehr Nein geht nicht“ lesen.
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Was bisher geschah
2007 haben wir mit dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung eine Verfassungsbeschwerde eingereicht – 2010 kippte das Bundesverfassungsgericht daraufhin zum ersten Mal das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. 2015 beschloss die Bundesregierung erneut ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, gegen welches wir 2016 wieder eine Verfassungsbeschwerde einreichten. Seither warten wir auf den Richterspruch aus Karlsruhe. Das aktuelle EuGH-Urteil wurde von dem Internet-Provider SpaceNet AG erstritten.
Unsere Chronik zur Vorratsdatenspeicherung
Unser herzlicher Dank geht an alle, die sich gegen die Vorratsdatenspeicherung und für unsere Grundrechte engagieren. Das hier ist unser gemeinsamer Erfolg! Das haben wir nur erreicht, weil so viele beigetragen haben – mit juristischem Sachverstand, mit Überzeugungskraft, mit unendlich viel Arbeit und mit finanzieller Unterstützung, ohne die wir diese Arbeit nicht geschafft hätten.