Europol-Dokumente: Hardliner wollen „beschränkte“ Vorratsdatenspeicherung
Aktuell kämpft Digitalcourage mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die anlasslose Speicherung von Telefon- und Internetverbindungen in Deutschland. Aber auch in der Europäischen Union gibt es derzeit zwei neue Bestrebungen, die Kommunikation von allen Menschen ohne Anlass zu speichern. In der ePrivacy-Verordnung soll dazu eine Hintertür eingebaut werden. Und im Rat der Europäischen Union plant der Koordinator für die Terrorismusbekämpfung eine neue Massenüberwachung. Mit einer Transparenzanfrage haben wir zwei großflächig geschwärzte Europol-Dokumente erhalten, die zeigen, wie die neue „beschränkte“ Vorratsdatenspeicherung aussehen soll.
Wir werden weiter Dokumente befreien und auf unserem Blog sowie in unserem Newsletter informieren
Veröffentlichte Dokumente
- Europol: Outcome of the 1st Data Retention Matrix Workshop (17. April 2018)
- Europol: Outcome of the 2nd Data Retention Matrix Workshop (17. Mai 2018) (siehe unten)
Trotz Urteilen immer wieder Massenüberwachung
Schon mehrfach wurden anlasslose Vorratsdatenspeicherungen von Gerichten für verfassungswidrig erklärt. Auf europäischer Ebene geschah das zuletzt im Dezember 2016 durch das sogenannte Tele2-Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Den Interpretationsspielraum dieses Urteils nutzen die Verantwortlichen im Rat der Europäischen Union jedoch aus, um Möglichkeiten zu finden, eine neue, anlasslose Vorratsdatenspeicherung in der EU einzuführen.
Zwei neue EU-Vorstöße für Vorratsdatenspeicherung
Über zwei Wege versuchen die Verantwortlichen eine Vorratsdatenspeicherung durchzudrücken;
eine private Vorratsdatenspeicherung: Beim Ansatz der privaten Vorratsdatenspeicherung soll die sich derzeit in Verhandlung befindliche ePrivacy-Verordnung ausgenutzt werden, um eine Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür einzuführen. Mehr Informationen dazu gibt es auf unserem Blog.
„beschränkte“ Vorratsdatenspeicherung: Neben der privaten Vorratsdatenspeicherung favorisieren die Justiz- und Innenminister.innen eine sogenannte „beschränkte Vorratsdatenspeicherung” (restricted data retention). Die von uns veröffentlichten Europol-Präsentationen zeigen: Geplant ist tatsächlich eine anlasslose Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung.
Text: David Leeuwestein
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Hintergrund
Was verbirgt sich eigentlich hinter der Vorratsdatenspeicherung oder der ePrivacy-Verordnung? Zum Nachlesen einfach auf das gelbe Dreieck oder die jeweilige Überschrift tippen beziehungsweise klicken.
Vorratsdatenspeicherung?
Mit der Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten werden je nach Ausgestaltung verschiedene Verbindungsdaten gespeichert. In Deutschland betrifft das Meta-Daten zu Anrufen und SMS sowie IP-Adressen. Betroffen sind nicht nur Verdächtigte, sondern die gesamte Bevölkerung. Mithilfe der gespeicherten Daten können Bewegungsprofile erstellt, geschäftliche Kontakte rekonstruiert und Freundschaftsbeziehungen identifiziert werden. Auch Rückschlüsse auf den Inhalt der Kommunikation, auf persönliche Interessen und die Lebenssituation der Kommunizierenden ist möglich. Mehr Informationen zur Vorratsdatenspeicherung gibt es auf unserer Übersichtsseite zur Vorratsdatenspeicherung.
ePrivacy-Verordnung
Die aktuell verhandelte ePrivacy-Verordnung soll die Datenschutz-Grundverordnung um spezifische Richtlinien zur Telekommunikation ergänzen. Aktuell wird dieser Bereich noch von einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2002 abgedeckt. Eine Anpassung ist dringend nötig, doch die Mitgliedsstaaten blockieren den Prozess immer wieder, um den Datenschutz aufzuweichen. Mehr Informationen zur ePrivacy-Verordnung und zu den aktuellen Problemen gibt es auf unserer Übersichtsseite.
„Beschränkte“ Vorratsdatenspeicherung
Der Europäische Gerichtshof hat im sogenannten Tele2-Urteil eindeutig festgestellt, dass anlasslose, fächendeckende Vorratsdatenspeicherungen einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte bedeuten. Das Urteil schloss eine Vorratsdatenspeicherung jedoch nicht völlig aus.
Diese müsse jedoch „hinsichtlich der Kategorien der zu speichernden Daten, der erfassten elektronischen Kommunikationsmittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Dauer der Vorratsspeicherung auf das absolut Notwendige beschränkt” sein.
Dennoch wollen Überwachungs-Politiker.innen jetzt mit einer „beschränkten“ Vorratsdatenspeicherung genau solch eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung wieder einführen. Der wesentlichste Unterschied zur gekippten Regelung ist, dass künftig nicht mehr alle Daten, sondern nur vorgeblich „absolut relevante Daten“ gespeichert werden sollen. Die von uns veröffentlichten Europol-Dokumente zeigen, dass das nur eine oberflächliche Ablenkung ist.
Vorschlag des EU-Koordinators für die Terrorismusbekämpfung
Die Idee von der „beschränkten“ Vorratsdatenspeicherung geht auf den EU-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung (EU-CTC) zurück.
Dies geht aus einem Arbeitspapier des EU-CTCs hervor, das die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch im November 2017 veröffentlicht hat.
Da dem EU-Anti-Terror-Koordinator die, von den Providern aus technischen und geschäftlichen Gründen, gespeicherten Daten nicht ausreichen, fordert er eine neue staatliche Massenüberwachung aller Menschen in der EU. Minimale Einschränkungen in der Datenspeicherung sollen sicherstellen, dass das Vorhaben nicht wieder vom Europäischen Gerichtshof gekippt wird.
So schlägt der Anti-Terror-Koordinator vor, dass Berufsgeheimnisträger.innen sich auf Antrag von der Vorratsdatenspeicherung ausnehmen lassen können. In dem Arbeitspapier heißt es dazu:
Die zusätzlichen Ausnahmen für Personen im Zusammenhang mit dem Berufsgeheimnis bedeuten auch, dass nicht die gesamte Bevölkerung betroffen ist. Die von den Maßnahmen betroffene Bevölkerung würde unter die Kategorie fallen, welche "aus anderen Gründen durch die Speicherung ihrer Daten zur Verbrechensbekämpfung beitragen könnte".
englisches Originalzitat
The additional examptions for persons linked to professional secrecy also mean that not the whole population is affected. The population covered by the measures would fall under the category that they „could, for other reasons, contribute, through their data being retained, to fighting crime“.
Im Klartext bedeutet das:
Der Anti-Terror-Koordinator argumentiert: Da Berufgeheimnisträger.innen ausgenommen sind, ist die Vorratsdatenspeicherung nicht mehr flächendeckend, sondern betrifft lediglich solche, die durch ihre Daten auch dazu beitragen könnten, Verbrechen aufzuklären. Das stellt nahezu alle Bürgerinnen und Bürger unter Generalverdacht.
Zudem erfolgt die Datenspeicherung weiter anlasslos. Der Anti-Terror-Koordinator argumentiert, dass dies dem Erforderlichkeitstest vor dem Europäischen Gerichtshof überstehen würde. Zudem soll der Zugriff auf die gespeicherten Daten beschränkt werden.
Dieser Vorschlag erfüllt unserer Auffassung nach auf gar keinen Fall die hohen Anforderungen, die der EuGH an eine Vorratsdatenspeicherung gestellt hat.
Der EuGH hat mehrfach klargestellt, dass flächendeckende Vorratsdatenspeicherungen auf gar keinen Fall verhältnismäßig sind. Zuletzt bezog er sich auf diesen Grundsatz in Ziffer 191 der Stellungnahme 1/15 zum PNR-Abkommen EU-Kanada. Darüber hinaus heißt es in Randnummer 110 des Tele2-Urteils ausdrücklich, dass nachgewiesen werden muss, dass die Bedingungen einer Vorratsdatenspeicherung so beschaffen sein müssen, dass sie in der Praxis den Umfang dieser Maßnahme und damit die betroffene Öffentlichkeit begrenzen.
Auch WhatsApp, Telegram und Co. im Visier
Weiter schlägt der Anti-Terror-Koordinator vor, dass auch sogenannte Over-The-Top-Services (OTTs) von einer neuen Vorratsdatenspeicherung erfasst werden sollen. Damit wären auch alle Dienste betroffen, die lediglich vom Internetanbieter ausgeliefert – jedoch nicht selber angeboten werden. Bekannte Beispiele für solche Dienste sind etwa Messenger wie WhatsApp oder Telegram. Dieser Vorschlag setzt sich in der weiteren Diskussion durch. Schließlich seien solche Dienste von der bisherigen Rechtssprechung des Urteils nicht erfasst und könnten daher gespeichert werden. So heißt es in einem Beschlussentwurf der Präsidentschaft des EU-Rates vom März 2019:
Es sei auch darauf hingewiesen, dass argumentiert wurde, dass die Entscheidungen des Gerichtshofs zu diesen Fällen nur für Verkehrs- und Standortdaten und nicht für Bestandsdaten gelten.
englisches Originalzitat
it should also be noted that it has been argued that the findings of the Court in those cases apply only to traffic and location data, and not to subscriber data.
Auch in den von uns veröffentlichten Europol-Präsentationen wird auf OTTs Bezug genommen. Damit ist die geplante beschränkte Vorratsdatenspeicherung sogar noch weitreichender als der verfassungswidrige Vorgänger.
Deutsche Bundespolizei gegen jede Einschränkung
Die deutsche Bundespolizei wehrt sich gar komplett gegen jede Einschränkung der Vorratsdatenspeicherung. Ungeachtet des Tele2-Urteils fordern sie in einem von Statewatch veröffentlichten Schreiben an den Rat der Europäischen Union auf zeitliche oder räumliche Beschränkung des Speicherzwangs zu verzichten. Die deutsche Bundespolizei argumentiert: Diese Beschränkungen machen schlicht keinen Sinn. Man könne schließlich nicht vorab erkennen, wo und wann künftig eine Straftat verübt werde. Auch sei eine Beschränkung aus technischen Gründen nicht ohne weiteres möglich.
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Neue Europol-Dokumente: Maximal-Überwachungs-Matrix
Im weiteren „Reflektionsprozess“ des Tele2-Urteils wurde Europol vom Rat der Europäischen Union damit beauftragt, eine Daten-Matrix zu erstellen. Diese soll darstellen, welche Datenkategorien von der Vorratsdatenspeicherung betroffen sein sollen. Auch soll die Datenmatrix darlegen, warum deren Speicherung „absolut notwendig“ ist, wie es vom Europäischen Gerichtshof verlangt wird.
Europol jedoch dreht den Spieß um und will alles speichern, was potentiell relevant sein könnte. Somit legt die Matrix nahe, dass alle Daten erfasst werden sollen, die auch von der alten Vorratsdatenspeicherung erfasst wurden, wenn nicht gar noch mehr. Lediglich absolut nichtssagende Daten, wie die Antennenlänge, sollen nicht erfasst werden. Damit ist aber das Problem, das auch der EUGH im Tele2-Urteil anerkennt nicht gelöst: Standortdaten, wer wann mit wem telefoniert, wann wir im Internet surfen – das sind Daten die das gesamte Privatleben der Betroffenen durchleuchten. Und ebendiese will Europol dennoch anlasslos speichern.
In einer Präsentation aus dem Jahr 2018, die wir mittels einer Transparenzanfrage erhalten haben und hier erstmals veröffentlichen, heißt es dazu:
Die Strafverfolgungsbehörden befürworten in der Tat nicht die allgemeine oder wahllose Speicherung aller verfügbaren Informationen, sondern unternehmen alle Anstrengungen, um den Zusammenhang [zwischen den verfügbaren Datenkategorien] zu dem herzustellen, was unbedingt notwendig ist, um schwere Kriminalität und Terrorismus zu verhindern und zu bekämpfen. Der Schwerpunkt sollte auf dem liegen, was für die Bekämpfung der schweren Kriminalität und des Terrorismus nicht unbedingt notwendig wäre.
englisches Originalzitat
LE is, indeed, not advocating the general or indiscriminate retention of any available information but is making best effort to draw the link to what is strictly necessary in order to prevent and combat serious crime and terrorism. Focus should be on what would not be absolutely essential for the fight against serious crime and terrorism.
Nicht potentiell relevante Daten
In einer zweiten Präsentation, die wir hier ebenfalls veröffentlichen, stellt Europol auch klar, was für sie „nicht potentiell relevante Datenkategorien“ sind:
Als nicht relevante Datenkategorien nennt Europol in der uns vorliegenden Präsentation die Länge der Antenne, Anzahl der Klingeltöne und Qualität der Übertragung. Wir haben starke Zweifel, ob diese Ausnahmen genügen, um die Vorgaben des EUGH zu erfüllen. Denn übrig bleiben demnach sensible Verkehrsdaten. Warum ebendiese besonders geschützt werden müssen und nicht anlasslos gespeichert werden dürfen, erklärt das Tele2-Urteil. Wir haben in einem Blogartikel zum Beginn der deutschen Vorratsdatenspeicherung erläutert, weshalb die dort vorgeschrieben Überwachung der Umstände von Kommunikation jeden Winkel des Privatlebens ausleuchtet.
Wie geht es weiter?
Wie aus einem Beschlussentwurf des EU-Rates vom März 2019 hervorgeht, will dieser die EU-Kommission damit beauftragen, „eine umfassende Studie“ über die rechtlichen Möglichkeiten der Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten für Strafverfolgungszwecke zu erstellen. Die Studie soll bis Ende 2019 abgeschlossen sein und „die Prüfung einer künftigen Gesetzesinitiative“ beinhalten.
Die gute Nachricht: Wir bleiben dran!
Eine aus unserer Sicht klar rechtswidrige Überwachungsmaßnahme, die intransparent diskutiert wird, ist mit demokratischen Grundsätzen unvereinbar. Genau das tun die Verantwortlichen im Rat der Europäischen Union jedoch schon seit 2017. Wir werden weiter Dokumente befreien und auf unserem Blog sowie in unserem Newsletter informieren.
Wer kann die Massenüberwachung verhindern?
Sobald ein Entwurf für eine neue Vorratsdatenspeicherung steht, werden wir uns einmischen und fordern: Es darf keine weitere Vorratsdatenspeicherung geben! Die verantwortlichen Politiker.innen, Herr Seehofer und Frau Katarina Barley: Stellen Sie sich im Rat der Europäischen Union gegen eine Vorratsdatenspeicherung. Akzeptieren Sie endlich die Urteile des Europäischen Gerichtshof und des Bundesverfassungsgerichts: Anlasslose Vorratsdatenspeicherungen sind mit unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht vereinbar!
Wir fordern:
- Es darf keine weitere Vorratsdatenspeicherung geben!
- Herr Seehofer und Frau Katharina Barlay: Setzen Sie sich gegen eine neue Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene ein!
- Die Arbeitspapiere und Ergebnisse des EU-Rates zur Vorratsdatenspeicherung müssen im Transparenzregister veröffentlicht werden.
- Die Stellungnahmen von EU-Insitutionen und -Mitgliedsstaaten müssen der Öffentlichkeit vollumfänglich zugänglich sein.
Weitere Informationen
Veröffentlichte Dokumente
Die von uns veröffentlichten Dokumente:
- Europol: Outcome of the 1st Data Retention Matrix Workshop (17. April 2018)
- Europol: Outcome of the 2nd Data Retention Matrix Workshop (17. Mai 2018)