Verfassungsbeschwerde: Wir klagen gegen Überwachung in NRW – und deutschlandweit
Am 30. Oktober reichen wir die von uns koordinierte Verfassungsbeschwerde gegen die in NRW neu eingeführte präventive Telekommunikationsüberwachung (kurz: TKÜ) sowie die Quellen-Telekommunikationsüberwachung (kurz: Q-TKÜ) mit Staatstrojanern ein.
Die angegriffenen Regelungen ermöglichen der Polizei faktisch eine Überwachung der gesamten Internetkommunikation. Das umfasst Kommunikation zwischen Menschen, aber auch jegliches Surfverhalten – besonders dann, wenn Staatstrojaner eingesetzt werden, um Verschlüsselung zu umgehen. Das Ganze darf unter Voraussetzungen durchgeführt werden, die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Bestimmtheit und Nachvollziehbarkeit nicht mehr genügen.
Mit dieser Verfassungsbeschwerde könnten wir eine Grundsatzentscheidung erwirken, die der „Telekommunikationsüberwachung ohne Grenzen“ deutschlandweit einen Riegel vorschiebt.
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Mit juristischen Mitteln gegen den Angriff auf unsere Grundrechte
In anderen Bundesländern wurden ähnliche Verschärfungen bereits verabschiedet. Die schärferen Polizeigesetze gefährden rechtsstaatliche Prinzipien und greifen tief in Grundrechte, wie das Recht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme („IT-Grundrecht“) oder das Fernmeldegeheimnis ein. In allen novellierten Polizeigesetzen sind Staatstrojaner zum Auslesen verschlüsselter Nachrichten in Messengern erlaubt worden – und für viele Bundesländer kämpfen Bürgerrechtler mit Verfassungsbeschwerden gegen diesen Angriff auf unsere Geräte. Wir stellen sicher, dass das auch in NRW passiert.
Wie funktioniert Telekommunikationsüberwachung?
Die Polizei stellt einen Antrag auf Telekommunikationsüberwachung. Sobald eine Richterin oder ein Richter diesen Antrag bewilligt hat („Richtervorbehalt“), ist der Telekommunikationsanbieter verpflichtet den sogenannten Rohdatenstrom in Form einer „Überwachungskopie“ an die Polizei auszuleiten. Das betrifft alle Daten, die über den Anschluss übertragen werden. Der Begriff „Telekommunikation“ wird in der Praxis inzwischen sehr weit interpretiert. Deshalb bedeutet diese Form der Überwachung mehr als „nur“ Telefonate abzuhören. Wenn Dein Anschluss überwacht wird, heißt das, dass die Polizei einen erheblichen Anteil Deiner Online-Aktivitäten beobachten kann: Zum Beispiel, wann Du auf welcher Plattform Videos geschaut hast, in welcher Online-Zeitung Du gelesen und wann Du über den Browser Dein E-Mail-Postfach genutzt hast. Die Inhaltsdaten kannst Du, bedingt, durch Verschlüsselung schützen. Verräterische Aktivitätsdaten können immer noch überwacht werden.
TKÜ ist eine versteckte Online-Durchsuchung
Die Überwachung eines DSL-Anschlusses oder eines Mobiltelefons lässt also umfassende Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der überwachten Person zu (soziale Aktivitäten, sexuelle Vorlieben, Gesundheitszustand, politische Einstellung, ...). Wann wir wo sind, mit wem wir wie oft versuchen Kontakt aufzunehmen, auf welchen Internetseiten wir uns nachts vor dem Schlafen herumtreiben: Wer diese Informationen über uns hat, weiß womöglich mehr als unsere engsten Freund.innen. Telekommunikationsüberwachung ist heutzutage eigentlich nichts anderes als eine Online-Durchsuchung – mit anderen Mitteln und unter viel geringeren gesetzlichen Voraussetzungen. Dagegen gehen wir vor.
Grundsatzurteil möglich
Wir sind der Ansicht, dass eine solche TKÜ-Regelung einen massiven Einbruch in die Intimsphäre bedeutet. Eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen eine gesetzliche Befugnis ist grundsätzlich nur innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten möglich. Da es in NRW bis Dezember 2018 keine präventiv-polizeiliche Befugnis zur Telekommunikationsüberwachung gab, können wir also mit einer Verfassungsbeschwerde dagegen vorgehen. Eine Entscheidung des Verfassungsgerichts hätte allerdings Bedeutung über die Grenzen von NRW hinaus: Sie beträfe alle gleich gefassten TKÜ-Regelungen. Kurz: Mit dieser Verfassungsbeschwerde könnten wir eine Grundsatzentscheidung erwirken, die der „Telekommunikationsüberwachung ohne Grenzen“ deutschlandweit einen Riegel vorschiebt.
Was ist Quellen-Telekommunikationsüberwachung?
Um Verschlüsselung zu umgehen, darf die Polizei in NRW jetzt Staatstrojaner einsetzen. Staatstrojaner sind Programme, die auf den Geräten der Zielperson installiert werden und die Kommunikation direkt an der Quelle überwachen und aufzeichnen, bevor eine Nachricht verschickt wird. Ob man davon betroffen ist, ist schwer herauszufinden. Auch die demokratische Kontrolle solcher Maßnahmen ist schwierig: Das NRW-Polizeigesetz erlaubt ausschließlich, die laufende Kommunikation zu überwachen. Das ist nach Aussage von Expert.innen aber technisch gar nicht möglich. Beispielsweise hat der CCC 2011 aufgedeckt, dass ein Staatstrojaner verwendet wurde, der viel mehr kann als er darf. In jedem Fall hat der Einbruch in ein technisches Gerät schwere Folgen.
Staatstrojaner schaden – nicht nur den Betroffenen
Für die betroffene Person bedeutet der Trojaner einen drastischen Eingriff in ihre Privatsphäre: Das Smartphone ist unser täglicher Begleiter. Unserem Telefon vertrauen wir – teils beiläufig – Informationen an, die wir nicht mal unseren engsten Freunden freiwillig sagen würden. Auch in der Sicherheit aller IT-Systeme richten Staatstrojaner großen Schaden an. Für die Installation dieser Spähsoftware aus der Ferne braucht die Polizei Sicherheitslücken – also Schwachstellen in Software auf dem Zielgerät, die einen Angriff ermöglichen. Die bleiben in allen Geräten mit gleicher Hardware und Software sperrangelweit offen. Kriminelle, denen die Schwachstelle bekannt ist, können sie ausnutzen. Die Folgen können, wie der „WannaCry“-Vorfall gezeigt hat, dramatisch sein.
Aber ihr habt doch gesagt, ihr greift alle Regelungen an?
Stimmt. Wir haben entschieden zweistufig vorzugehen. Die Verfassungsbeschwerde, die wir am 30. Oktober persönlich nach Karlsruhe bringen, fokussiert sich auf TKÜ und Q-TKÜ – den neuen § 20c PolG NRW und die, aus unserer Sicht, viel zu unbestimmten Voraussetzungen für die Durchführung der Maßnahme: namentlich die im Gesetzestext immer noch angelegte „drohende Gefahr“ sowie den Katalog vermeintlich „terroristischer Straftaten“ in § 8 Abs. 4 PolG NRW. Auch hier hätte eine Entscheidung grundsätzliche Bedeutung, denn diese Voraussetzungen sind in allen neuen Regelungen, insbesondere den sogenannten „aktionellen Vorfeldbefugnissen“: Aufenthaltsvorgabe, Kontaktverbot, elektronische Fußfessel enthalten. Alle diese Regelungen würden wie Dominosteine fallen, wenn sich das Gericht unserer Rechtsauffassung anschließt.
Die „aktionellen Befugnisse“ sind – im Gegensatz zu heimlichen Maßnahmen, wie Staatstrojanern – grundsätzlich schwieriger mit einer Verfassungsbeschwerde anzugreifen. Das Verfassungsgericht verlangt bei derartigen Maßnahmen, dass zunächst der normale Rechtsweg beschritten wird, bevor man die Beschwerde nach Karlsruhe trägt. Das heißt: Wer von so einer Maßnahme betroffen ist, muss sich durch die Instanzen klagen. Wenn das jeweils zuständige Gericht nicht von selbst das Bundesverfassungsgericht bemüht, kann es – mit Berufung und Revision – Jahre dauern. Wir prüfen aber die Möglichkeit diese Hürde zu überwinden und mit einer zweiten Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Regelungen vorzugehen, die die Polizei in NRW zu derart freiheitsbeschränkenden Maßnahmen berechtigen. Das braucht noch etwas Zeit. Wir halten Dich auf dem Laufenden.