Vorratsdatenspeicherung
Mit der Vorratsdatenspeicherung droht ein altbekanntes Überwachungsmonster zurück zu kommen. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung von Union und SPD heißt es: „Wir führen eine verhältnismäßige und europa- und verfassungsrechtskonforme dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern ein, um diese einem Anschlussinhaber zuordnen zu können.“ „Verhältnismäßige Speicherpflicht“? Das klingt ungefähr so widersprüchlich wie „anonyme Spende per Paypal“ oder „Zeugenschutz mit Livestream“.
Was sich hinter dieser Formulierung verbirgt, ist im Kern nichts anderes als ein erneuter Versuch, die massenhafte Speicherung von Kommunikationsdaten der gesamten Bevölkerung zu etablieren – diesmal auf IP-Adressen beschränkt. Tatsächlich haben gleich mehrere Gerichte – vom Bundesverfassungsgericht bis zum Europäischen Gerichtshof – deutlich gemacht: Eine anlasslose Speicherung von Verbindungsdaten ist nicht verhältnismäßig. Sie verletzt Grundrechte, ist rechtlich unzulässig und gesellschaftlich hoch umstritten. Doch trotzdem versucht es die neue Koalition erneut. Auf den vorbelasteten Begriff Vorratsdatenspeicherung scheint die Koalition aber verzichten zu wollen. Wohl aus dem Grund: Gegen kaum ein Überwachungsinstrument hat es in den vergangenen Jahrzehnten so viel Widerspruch gegeben. Ein Überblick.
Gefahren und Kritik
Was hier so technokratisch daherkommt, ist im Kern ein neuer Versuch, die massenhafte Speicherung von Kommunikationsdaten zu etablieren – diesmal „nur“ IP-Adressen. Die sollen künftig für drei Monate gespeichert werden, um sie strafrechtlich auswertbar zu machen. Dabei können selbst diese Daten bereits Rückschlüsse auf Aufenthaltsorte und Bewegungsprofile zulassen – insbesondere bei der Nutzung mobiler Endgeräte. Und: Auch eine „kleine“ Vorratsdatenspeicherung bleibt eine Massenüberwachung – und damit grundrechtswidrig. Sie kehrt das Prinzip der Unschuldsvermutung um: Nicht nur Verdächtige werden überwacht, sondern alle - jederzeit, vorsorglich, massenhaft. Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen das Menschenrecht auf Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung und widerspricht der europäischen Grundrechte-Charta.
Argumente gegen die Vorratsdatenspeicherung gibt es viele: Sie ist unwirksam , kostet Millionen, und wurde vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) für grundrechtswidrig befunden und aufgehoben.
Die anlasslose Speicherung gefährdet die Arbeit in Berufen, für die Vertraulichkeit notwendig ist – also zum Beispiel Ärzt.innen, Jurist.innen, Seelsorger.innen und Journalist.innen sowie alle Menschen, die mit ihnen zu tun haben. Insbesondere der Quellenschutz von Journalisten ist gefährdet, da ihre Quellen keinen Schutz vor dem Datenabruf genießen.
Auch politisch oder unternehmerisch Aktive, die der Vertraulichkeit bedürfen, könnten durch die Vorratsdatenspeicherung abgeschreckt werden – bereits dadurch schadet sie der freiheitlichen Gesellschaft. Alle Fakten gegen die Vorratsdatenspeicherung mit vielen Studien, Statistiken und Analysen, haben wir in einem Blogartikel oder etwas komprimierter in unserer 5-Minuten-Info zum Thema gesammelt.
Die Koalitionäre betonen zwar, die geplante Maßnahme sei „verhältnismäßig“ und „verfassungsrechtskonform“. Doch das wurde auch über frühere Gesetze behauptet – bevor sie vom Bundesverfassungsgericht oder dem EuGH kassiert wurden. Dass IP-Adressen für die Strafverfolgung nützlich sein können, ist unbestritten. Doch das rechtfertigt keine anlasslose Massenüberwachung. Dass diesmal „nur“ IP-Adressen gespeichert werden soll, entkräftet nicht die vielen guten Argumente gegen die Vorratsdatenspeicherung. Diese werden verharmlosend auch Metadaten genannt. Politikerinnen und Politiker wollen uns weismachen, dass diese „Daten über Daten“ nur wenig Aussagekraft besäßen, sie wären weniger intim, als die eigentlichen Inhalte unserer Kommunikation. Doch längst ist nachgewiesen, dass Metadaten ausreichen, um unser Leben bis in die letzte Ecke zu durchleuchten.
Statt pauschaler Speicherung aller Verbindungsdaten fordern wir und viele andere Fachleute: Quick Freeze. Bei dem Verfahren können Strafverfolger die Speicherung von Daten veranlassen um zu verhindern, dass die Daten in der Zwischenzeit gelöscht werden. Dadurch wird die routinemäßige Löschung der Daten unterbunden; die Daten werden „eingefroren“. Sobald ein richterlicher Beschluss vorliegt, ist dann die Nutzung der Daten erlaubt, sie werden wieder „aufgetaut“ und der Strafverfolgungsbehörde ausgehändigt. Quick Freeze ist rechtsstaatlich, verhältnismäßig und bereits heute möglich und funktioniert völlig ohne anlasslose Massenüberwachung wie bei der Vorratsdatenspeicherung und ermöglicht Strafverfolgungsbehörden dennoch Zugriff auf Daten.
Die Überwachungszombies kehren zurück
Was bisher geschah
Trotz solcher alternativer Konzepte wird seit Jahren von Regierungen, Innenpolitiker.innen und Strafverfolgungsbehörden die Vorratsdatenspeicherung präferiert. Doch kaum ein Überwachungsvorhaben hat so konsequent Widerspruch provoziert. Seit vielen Jahren kämpft Digitalcourage e.V. (damals FoeBuD) gegen die Vorratsdatenspeicherung – unter anderem mit Großdemos unter dem Motto „Freiheit statt Angst“, Argumenten, Aufklärung, Klagen, kreativen Aktionen und einer breiten Bewegung von Bündnispartnerinnen und -partnern.
Gegen die zur damaligen Zeit erstmals beschlossene Vorratsdatenspeicherung haben wir 2008 gemeinsam mit dem AK Vorrat Verfassungsbeschwerde eingereicht. 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regelung für verfassungswidrig und nichtig. Es verletzte das Fernmeldegeheimnis und das Recht auf informelle Selbstbestimmung. Massenspeicherung ohne konkreten Verdacht wurde als zu weitreichend bewertet. 2014 entschied auch der Europäische Gerichtshof, dass die zugrunde liegende EU-Richtlinie mit der Grundrechte-Charta der Europäischen Union unvereinbar ist.
Trotzdem wurde die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland von der Großen Koalition 2015 neu aufgelegt. Auch dagegen legte Digitalcourage Verfassungsbeschwerde (BVer2683/16) ein. Mehr als 37.000 Menschen hatten die Klage mitunterzeichnet, und über 20 prominente Mitbeschwerdeführer.innen unterstützten sie. Schließlich stellte der Europäische Gerichtshof 2022 fest, dass die anlasslose Massenüberwachung nicht mit EU-Recht vereinbar sei. Das Unionsrecht steht laut der Entscheidung nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsähen. Allerdings dürften Verkehrs- und Standortdaten sowie IP-Adressen gespeichert werden, wenn eine ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit vorliegt, entschied der EuGH. 2023 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, mit Verweis auf das Urteil des EuGH, dass auch nach deutschem Recht die Vorratsdatenspeicherung nicht mehr anwendbar sei, da das Unionsrecht Vorrang hat. Unsere Verfassungsbeschwerde hatte damit ihren Zweck erfüllt.
Die gesamte Geschichte der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland und der EU haben wir in einer Chronik gesammelt. Diese informiert über die wichtigsten Gesetzesvorhaben, Klagen, Urteile und Initiativen gegen die Vorratsdatenspeicherung. Zur weiteren Recherche sind die Fundstellen der genannten Gesetze, Klagen und andere offizielle Dokumente direkt im Text verlinkt.
Wie geht es weiter
Trotz des mehrfachen Scheiterns vor Gericht steht das Überwachungsmonster nun wieder auf: Die neue Bundesregierung tastet sich vorsichtig zurück in die Welt der Massenspeicherung. Für uns bleibt klar: Die Vorratsdatenspeicherung ist eine Gefahr für unsere Freiheit – sie hat keinen Platz in einer Demokratie.
Der neue Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) bekräftigte dagegen kurz nach seinem Amtsantritt sein Vorhaben und kündigte an, Telekommunikationsanbieter dazu zu verpflichten, alle IP-Adressen und Portnummern zu speichern, „um schwere Kriminalität effektiv zu bekämpfen“. Die Daten sollen hierfür drei Monate lang gespeichert werden. Die Politik will die Möglichkeit, der IP-Adressenspeicherung, die das Urteil des EuGH von 2022 offen gelassen hat, ausnutzen. Ob dies in Kombination mit der langen Speicherfrist aber vor den Gerichten Bestand haben wird ist unklar, denn in seiner Entscheidung betont der EuGH, dass dies nur möglich sei „wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht". Ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle muss diese Anordnung kontrollieren, der Zeitraum ist begrenzt. Ebenfalls als Ausnahme gilt die Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit. Aus Sicht von Digitalcourage ist aber die anlasslose allgemeine Speicherung aller IP-Adressen innerhalb dieses engen rechtlichen Rahmens des EuGH-Urteils nicht möglich und damit rechtswidrig.
Donata Vogtschmidt, die neue digitalpolitische Sprecherin der Linksfraktion, hat die Bundesregierung bereits nach „sachlichen Grundlage, Fakten oder Studien“ zu der Speicherfrist befragt. Die Antwort war ausweichend und enthielt keine konkreten Begründungen für die vergleichsweise lange Speicherfrist von drei Monaten. Auch diesmal steht die Einführung der Vorratsdatenspeicherung argumentativ und rechtlich also bereits auf wackeligen Füßen.
Union und SPD müssen diese Zombiegesetz mit massiven negativen Auswirkungen auf unser Zusammenleben konsequenterweise endlich beerdigen. Eine rechtsstaatliche Regelung zum Thema kann nur heißen, die Vorratsdatenspeicherung zu streichen. Denn egal wie oft sie umbenannt und verändert wird: Sie bleibt ein verfassungswidriger Angriff auf die Grundrechte von uns allen. Und noch eine Frage sei erlaubt: Wollt ihr, Union und SPD, wirklich eine Überwachungsinfrastruktur aufbauen, die einer Regierung mit AfD-Beteiligung schlüsselfertig übergeben werden kann?
Die Zivilgesellschaft hat die Vorratsdatenspeicherung bisher verhindert und gemeinsam müssen wir nun erneut den Zombie Vorratsdatenspeicherung zurück in die Gruft schicken. Für Freiheit, Grundrechte und einen demokratischen Rechtsstaat. Wir brauchen kein „verhältnismäßiges“ Grundrechtsmassaker. Wir brauchen einen klaren Satz: Die Vorratsdatenspeicherung ist tot. Und sie bleibt es.
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