Überwachung in und aus der Schweiz: Das volle Programm
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Lesen Sie auch Artikel zur Überwachung in den Niederlanden, Finnland und Österreich von dortigen Datenschutz-Organisationen.
Seit einigen Jahren arbeiten in der Schweiz sicherheitsbesessene Politiker und Behörden daran, die Überwachungsinstrumente im Internet massiv auszubauen und dabei die positiven Effekte der Digitalisierung zu verkennen oder gar zu negieren und zu pervertieren. Der folgende Text zeigt auf, wie sehr sich die Schweiz - trotz direktdemokratischer Mitspracherechte - auf netzpolitische Abwege begibt. Ein Gastbeitrag von Digitale Gesellschaft Schweiz:
Überwachung in und aus der Schweiz | Vorratsdatenspeicherung | Staatstrojaner | IMSI-Catcher | Mitschnüffeln erforderlich | Kabelaufklärung | Cyberwar | Netzneutralität | Netzsperren | Zukunft | Weiterführende Links
Die Schweiz ist weltweit für ihre Demokratie bekannt, die meist gar als vorbildlich erachtet wird. Dies betrifft insbesondere die direktdemokratischen Mittel, wie Initiativen und Referenden. Per Initiative (100'000 Unterschriften plus gewonnene Volksabstimmung) kann eine Verfassungsänderung erzwungen werden. Mit dem Referendum (50'000 Unterschriften plus gewonnene Volksabstimmung) kann ein vom Parlament beschlossenes Gesetz verhindert werden. Gefühlt in etwa einem Jahresrhythmus macht die Schweiz dann auch international Schlagzeile mit Begehren wie der «Masseneinwanderungsinitiative», «Ecopop», «Abzockerinitiative», «1:12 Initiative» und in Zukunft wohl auch mit der «Volksinitiative zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens».
Überwachung in und aus der Schweiz: Das volle Programm
Während international über die ausufernde Überwachung von, in und aus Deutschland und den USA berichtet wird, scheint in vielen Köpfen bezüglich Datenschutz und Privatsphäre ein unverdient positives Bild zur Schweiz verankert zu sein. Anders ist es kaum zu erklären, dass selbst der PGP-Erfinder Phil Zimmermann aus Gründen der Privatsphäre sein Silent Circle in die Schweiz verlegen will und als Grund für diese Wahl die Gesetzgebung zur Vorratsdatenspeicherung angibt. Auch Protonmail preist die Schweizer Gesetzgebung als Standortvorteil an.
Gemäss unseren Abgeordneten jedoch gibt es bezüglich Überwachungsmöglichkeiten in der Schweiz noch zu viel Luft nach oben. Korrigieren will man dies mit dem totalrevidierten «Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs», kurz BÜPF, sowie dem neuen «Nachrichtendienstgesetz», kurz NDG. Eine deutliche Mehrheit aus Mitte-Rechts hat diese Gesetzesvorlagen im Parlament mittlerweile sehr weit vorangetrieben - und wird diese wohl noch im Herbst 2015 endgültig verabschieden.
Im Folgenden sind - nach Art der Überwachungsauswüchse gegliedert - sowohl der aktuelle Stand als auch die durch BÜPF und NDG angedachten Erweiterungen aufgeführt:
Spare in der Zeit, dann hast du in der Not: Vorratsdatenspeicherung
Die Schweiz kennt keine Gerichtsinstanz, welche Bundesgesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfen und ausser Kraft setzen könnte. Trotzdem hat die Digitale Gesellschaft Schweiz eine Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung angestrengt, welche aktuell am Bundesverwaltungsgericht hängig ist. Mit einem - abschlägigen - Urteil kann noch in diesem Jahr gerechnet werden. Via Bundesgericht steht dann der Weg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) offen. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein Urteil nicht hinter jenem des Europäischen Gerichtshof (EuGH) zurückstehen wird. Ein Gutheissen der Beschwerde hätte direkte Folgen für die Schweiz - und (eine weitere) Signalwirkung für sämtliche Länder, welche die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben.
Staatstrojaner: Da hackts wohl
Mit dem revidierten BÜPF sowie dem neuen NDG soll es den Strafverfolgungsbehörden, bzw. dem Nachrichtendienst explizit erlaubt werden, Trojaner einzusetzen. Die bisher fehlende Gesetzesgrundlage hindert jedoch die Schweizer Behörden nicht daran, bereits seit 2004 Staatstrojaner einzusetzen. Zuletzt wurde dank dem HackingTeam-Hack bekannt, dass die Zürcher Kantonspolizei für knapp 500'000€ bei den Italienern Software und Support eingekauft hat.
IMSI-Catcher: Rastern für Faule
Mit dem neuen BÜPF soll auch der Einsatz von IMSI-Catchern durch die Strafverfolgungsbehörden legalisiert werden. Zusammen mit der 2003 beschlossenen Registrationspflicht für SIM-Karten könnte damit beispielsweise auf Knopfdruck festgestellt werden, wer an einer Demonstration teilnimmt, bzw. sich in der Nähe aufhält.
Aber auch hier gilt, dass sich die Polizei durch die bisher fehlende Rechtsgrundlage nicht bremsen lässt. So wurden bereits 2014 von der Zürcher Kantonspolizei entsprechende Geräte angeschafft; genauere Auskunft hierzu will man aber keine erteilen.
Ausweitung des Geltungsbereich: Mitschnüffeln erforderlich
Neben der Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung müssen Access Provider bereits heute jederzeit in der Lage sein, für die Strafverfolgungsbehörden aktive Überwachungsmassnahmen auszuführen. Mit dem kommenden BÜPF wird diese Mitwirkungspflicht stark ausgeweitet. So sollen neu zusätzlich auch Anbieter von Foren, Chaträumen, Onlinespeicher sowie E-Mail-, Hosting- und Cloud-Provider, ja sogar Hotels, Spitäler sowie Wohngemeinschaften zur Überwachung ihrer Benutzer, Patienten und Mitbewohner - oder mindestens deren Duldung - verpflichtet werden. Dies erinnert stark an die informellen Mitarbeiter in der DDR - mit dem Unterschied, dass in der Schweiz die Mitarbeit zwingend ist. Wer sich weigert oder aber die Überwachung ausplaudert, riskiert ein Bussgeld zwischen 40'000 und 100'000 CHF.
Kabelaufklärung: Suche im Heuhaufen
Mit dem NDG soll der Nachrichtendienst des Bundes einen neues Werkzeug, die sogenannte «Kabelaufklärung» zur Überwachung von Telekommunikationsverbindungen erhalten. Sämtlicher Internetverkehr, welcher von der Schweiz ins Ausland fliesst, könnte damit nach definierten Stichworten durchsucht werden. Da die meiste Internetkommunikation über ausländische Server und Netzwerke führt, ist die gesamte Bevölkerung von dieser Massenüberwachung betroffen. Und natürlich würden auch alle Zugriffe aus dem Ausland auf Schweizer Server und Dienste gerastert werden.
Cyberwar: Die Schweiz gegen den Rest
Mit dem neuen NDG soll der Nachrichtendienst in Computersysteme und Computernetzwerke eindringen dürfen, die sich im Ausland befinden und von denen Angriffe auf kritische Infrastrukturen in der Schweiz verübt werden – oder um «dort vorhandene oder von dort aus übermittelte Informationen über Vorgänge im Ausland zu beschaffen». (Quelle)
Schnüffelpause: Was sich sonst noch tut in der Schweiz
Netzneutralität
Die Schweiz kennt keine gesetzliche Netzneutralität. Die von dem Grünen Nationalrat Balthasar Glättli eingereichte Motion hierzu passierte zwar die erste Kammer (Nationalrat), wurde aber in der zweiten Kammer (Ständerat) abgeschmettert. Eine verbindliche Regelung ist damit wieder für geraume Zeit ausser Reichweite.
Netzsperren
In die Gesetzgebung haben Netzsperren bisher keinen Eingang gefunden. Dies impliziert jedoch nicht, dass es keine Solche gibt. Während sich in Deutschland "Löschen statt Sperren" erfolgreich durchgesetzt hat, versehen die grossen Internet Access Provider in der Schweiz freiwillig ihre DNS-Server mit einer Sperrliste der «Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität» (KOBIK). Darüber hinaus finden sich hierzulande Richter, welche eigenmächtig den Providern DNS-Sperren verordnen.
Was technisch möglich ist und bereits praktiziert wird, weckt natürlich Begehrlichkeiten. So wurden DNS- und IP-Sperren von der Arbeitsgruppe Urheberrecht gefordert, welche die Vorarbeit für eine Revision des Urheberrechts leistete, welche wohl 2015 von der Administration in die «Vernehmlassung» gegeben wird. Die Vernehmlassung ist eine Schweizer Institution: Gesetzentwürfe werden von der Administration, der Bevölkerung und den Interessenverbänden zur Kommentierung unterbreitet, bevor sie im Parlament diskutiert werden.
Zusätzlich und für die Netzgemeinschaft völlig unerwartet sollen Netzsperren ausgerechnet zur Abriegelung des heimischen Internet-Glückspielmarktes Einzug in die Gesetzgebung finden. So jedenfalls ist es in dem seit 2014 in der Vernehmlassung befindlichen Glückspielgesetz vorgesehen.
Zukunft
Leider sind die netzpolitischen Gruppierungen in der Schweiz wesentlich schwächer als in Deutschland. So war es leider bisher trotz dem Vorhandensein direktpolitischer Instrumente nicht möglich, Referenden oder gar Initiativen zu gewinnen. Als Digitale Gesellschaft haben wir uns vorgenommen, uns in Zukunft verstärkt einzubringen und wo nötig Gegensteuer zu geben. Zusammen mit weiteren netzpolitisch aktiven Organisationen werden wir gegen NDG und BÜPF das Referendum ergreifen. Damit wir je 50'000 Unterschriften erreichen, brauchen wir im Spätherbst viel Unterstützung, denn die Sammelfrist fängt kurz nach der Verabschiedung der Gesetze an und dauert drei Monate. Sollten wir die Unterschriften zusammenbringen, muss dann noch die allgemeine Volksabstimmung über die Gesetze gewonnen werden. Immerhin würde sich dann die Einführung der Gesetze um ein bis zwei Jahre verschieben, während derer wir uns auf den Abstimmungskampf vorbereiten könnten.
Anmerkung: Die Digitale Gesellschaft Schweiz teilt ausser dem Namen und einigen Themeninteressen keine Gemeinsamkeiten mit dem Digitale Gesellschaft e.V. aus Deutschland.
Weiterführende Links
- Digitale Gesellschaft Schweiz: Offener Brief zum Überwachungsgesetz BÜPF und zum neuen Nachrichtendienstgesetz
- Constanze: „Digitale Gesellschaft Schweiz“: 14.484 Überwachungsmaßnahmen im Jahr 2014 (netzpolitik.org)
- Digitale Gesellschaft Schweiz: Visualisierung zur staatlichen Überwachung in der Schweiz
- Jürg Altwegg: Schweiz will mehr Überwachung im Internet (FAZ)
- Tom Sperlich: Schweiz: Im Prinzip Ja zur neuen präventiven Überwachung (heise.de)
Text: Digitale Gesellschaft Schweiz
Nachtrag 2022: Es ist nicht besser geworden
In dem am 9. September 2022 bei Golem erschienenen Artikel Schweiz: Alles andere als ein Datenschutzparadies beschreibt Jaschar Kohal, dass sich die Datenschutz-Lage in der Schweiz seit erscheinen des obigen Gastbeitrags im Jahr 2015 eher verschlimmert als verbessert hat.