Hinter „Schutzranzen“ steht die Autoindustrie – und ungelöste Probleme mit autonomen Fahrzeugen

Für die Kampagne gegen Kinderüberwachung mit „Schutzranzen“ hatten wir eigentlich gar keine Zeit. Wir sind trotzdem aktiv geworden. Denn es geht um Grundsatzfragen der Zukunft mit selbstfahrenden Autos.

„Schutzranzen“ – Es geht um die Zukunft in einer vernetzten Welt

Für die Kampagne gegen Kinderüberwachung mit „Schutzranzen“ hatten wir eigentlich gar keine Zeit. Wir sind trotzdem aktiv geworden. Denn es geht nicht nur um ein Startup, das eine fehlgeleitete Idee hatte, um Helikoptereltern zu beruhigen und Kindern Verkehrsunfälle zu ersparen. Es geht um Grundsatzfragen der Zukunft mit vernetzten Gegenständen.
Automobilindustrie und Tech-Unternehmen stehen in den Startlöchern, um autonom fahrende Fahrzeuge auf den Markt zu bringen. Autonome Fahrzeuge werden kommen, und sie können uns bereichern. Dabei darf aber Gewinn nicht über Privatsphäre stehen. Eine Einschätzung der Technikfolgen ist nötig. Es muss geklärt sein, wie solche Autos Gegenstände und Menschen zuverlässig erkennen. Aber auf der Suche nach einer schnellen Lösung darf nicht jedes Mittel recht sein. Erst recht nicht die Überwachung von Kindern.

Volkswagen und „SeDriC“

2016 gibt die Volkswagen AG eine strategische Partnerschaft mit Coodriver, dem Startup hinter „Schutzranzen“, bekannt. 2017 stellt VW sein erstes autonom fahrendes Auto auf einer Messe vor: „SeDriC“, kurz für Self Driving Car. Wir glauben nicht an einen Zufall. Auch in der Pressemitteilung, die die Zusammenarbeit von VW mit Coodriver bekannt gibt, steht: „Die Vernetzung mit der Umwelt wird in Zukunft die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer verbessern. Daher ist die „Schutzranzen"-App ein weiterer Baustein der künftigen intelligenten Umfelderkennungstechnologien. […]“. Inzwischen räumt auch Coodriver-Geschäftsführer Hildebrandt öffentlich ein, dass sein Produkt in Wirklichkeit ein Werkzeug für die Autoindustrie sein soll. Man müsse sich mit der Zukunft des autonomen Fahrens auseinandersetzen, wird er auf heise.de zitiert.

Wettrennen um das erste selbstfahrende Auto

Die Autoindustrie und Tech-Unternehmen liefern sich ein Wettrennen, wer das erste praxistaugliche autonom fahrende Auto entwickelt. Die Umfelderkennung bereitet dabei bisher die größten Probleme. Es müssen Lösungen her, damit die selbstfahrenden Autos Radfahrer, Fußgängerinnen und andere Lebewesen zuverlässig erkennen. Auf der Suche nach Lösungen schreckt die Volkswagen AG nicht vor Überwachung zurück. Gemeinsam mit dem Startup hinter „Schutzranzen“ will der Konzern Kinder als Versuchskaninchen benutzen und so austesten, ob sich GPS-Tracking von Fußgängern eignet, um Unfälle zu verhindern. Ein Feldversuch, der gleichzeitig als Dienst an der Gemeinschaft verkauft wird, denn Volkswagen „[…] liegt […] das Thema ‚Kinder‘ sehr am Herzen.“ Zwar hat sich die Volkswagen AG inzwischen verbal von „Schutzranzen“ distanziert. Dennoch gibt es wenig Anlass, daran zu glauben, dass Volkswagen und andere von der generellen Idee abgekehrt sind, Unbeteiligte zu überwachen, um unter den ersten zu sein, die selbstfahrende Autos verkaufen. Volkswagen hat mehrere Eisen im Feuer: Anfang 2018 gab der Konzern eine Kooperation mit Aurora bekannt – ein Silicon-Valley-Konzern, gegründet von Ex-Google-Mitarbeiter Chris Urmson. Die Mission von Aurora: autonomes Fahren umsetzen und an die Massen vermarkten. Volkswagen ist weiterhin über die Wolfsburg AG in dem Startup Coodriver investiert und distanziert sich nicht von dem Ansatz, Personen zu überwachen, um autonomes Fahren zu ermöglichen.

Zur Vorgeschichte: Was ist Schutzranzen und warum ist das eine schlechte Idee?

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„Schutzranzen“ – überwachte Grundschulkinder sponsored by VW und Co.

Die Lobby der Autoindustrie reicht bis in die Verwaltung

Eine Pressemitteilung der Stadt Ludwigsburg im September 2017 zu „Schutzranzen“ lässt keinen Zweifel daran, dass man um jeden Preis die Entwicklung der „Smart City“ vorantreiben will: „Damit wird die digitale Umfelderkennung, eine der großen Herausforderungen beim autonomen Fahren, weiterentwickelt – diese spielt auch im Ludwigsburger Testfeld für neue Mobilität eine wichtige Rolle.“ Während in Niedersachsen die Projekte zur Schülerüberwachung eingestellt wurden, rührt sich Ludwigsburg nicht. Im Gegenteil: die Stadtverwaltung setzt einiges daran, das Projekt trotz aller Kritik durchzuziehen. Wir wissen jetzt auch, warum: Der zuständige Referent für Innovation war vorher in Brüssel als Lobbyist für die Autoindustrie tätig.

Datensammlungen sind heiß begehrt

Offenkundig ist, dass die Automobilindustrie auch vor Überwachung nicht zurückschreckt, um unfallfreie selbstfahrende Autos zu entwickeln. Doch im Hintergrund lauern weitere Risiken für die Privatsphäre. Wird es eine Black Box in Autos geben? Oder eine zentrale Sammlung von Metadaten auf den Servern der Hersteller? Wird es gesponsorte Ausflugsempfehlungen geben, wie in dieser Glosse? Neben den Automobilherstellern werden sich Telekommunikations-Unternehmen, Versicherungen, Werbeindustrie, Datenhändler und andere darum reißen, die beim autonomen Fahren anfallenden Daten in die Hände zu bekommen. Die Ethikkommission autonomes Fahren kommt in ihrem Bericht auch zu diesem Schluss: „Das automatisierte und vernetzte Fahren könnte zur Totalüberwachung aller Verkehrsteilnehmer führen. Bei einer zentralen Verkehrssteuerung ist davon auszugehen, dass die Freiheit des Einzelnen, sich unerkannt, unbeobachtet und frei von A nach B bewegen zu können, einer auf Effizienz beruhenden digitalen Verkehrsinfrastruktur geopfert werden könnte. Autonomes Fahren ginge zu Lasten autonomen Alltagshandelns.“

Es geht auch ohne Überwachung

Obendrein ist Überwachung für die Autoindustrie eine technologische Sackgasse. Wenn die Politik den europäischen Autobauern gestattet, Überwachungsdaten zum autonomen Fahren zu verwenden, statt die Sensorik an Bord zu verbessern, werden sie weiter hinter die Konkurrenz in den USA und anderswo zurückfallen: Die zum Google-Konzern Alphabet gehörende Firma Waymo setzt voll auf Onboard-Sensorik – auch bei der Erkennung von leicht zu übersehenden Verkehrsteilnehmern wie Fußgängern und Fahrradfahrenden. Diese Autos können wirklich autonom fahren, sind also nicht auf eine funktionierende Internetverbindung angewiesen und können schneller und zuverlässiger auf Hindernisse reagieren.

Autoindustrie und Politik müssen handeln

Selbstfahrende Automobile werden kommen. Das wird sich die Industrie nicht nehmen lassen und das wollen wir auch nicht verhindern. Es ist aber ihre Pflicht, Mittel und Wege zu finden, die nicht darauf bauen, dass sich jeder Fußgänger, jede Radfahrerin mit ihrem Smartphone oder einem anderen Gerät überwachen lässt. Es braucht Umfelderkennungstechnologien, die ohne Tracking und ohne Datensammlungen auskommen. Das zu realisieren, ist die Aufgabe der Industrie, die damit Umsatz machen will. Die Aufgabe der Politik ist es, den Rahmen vorzugeben und rote Linien zu ziehen: Sie muss Regeln aufstellen, damit unsere Grundrechte nicht im Wettrennen der Unternehmen unter die Räder geraten. Die Pflicht, sich vor Autounfällen zu schützen, darf nicht auf die abgewälzt werden, die sich frei in der Öffentlichkeit bewegen wollen – autonom auf einem Fahrrad fahrend oder zu Fuß.

Gute Gründe gegen „Schutzranzen“: Unsere Antwort an Ludwigsburg

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