Biometrische Massenüberwachung

Ampel bricht Koalitionsvertrag

Uns vorliegende Dokumente belegen: Die Ampelkoalition hat ihre guten Vorsätze und Versprechen aus dem Koalitionsvertrag gebrochen und setzt sich für biometrische Massenüberwachung ein.

Auf europäischer Ebene wird gerade das KI-Gesetz verhandelt. Gemeinsam im Bündnis ReclaimYourFace befassen wir uns schon lange mit diesem Gesetz, denn es böte die Chance, biometrische Massenüberwachung europaweit zu verbieten. Im Europäischen Parlament zeichnet sich inzwischen eine Mehrheit für unsere Forderung ab. Dokumente, die uns vorliegen, zeigen aber: Ausgerechnet die deutsche Regierung droht diesen Erfolg zunichte zumachen.

Dabei waren die Signale aus der Ampelkoalition bisher ermutigend. In ihrem Koalitionsvertrag schreibt sie eindeutig:

„Flächendeckende Videoüberwachung und den Einsatz von biometrischer Erfassung zu Überwachungszwecken lehnen wir ab. Das Recht auf Anonymität sowohl im öffentlichen Raum als auch im Internet ist zu gewährleisten.“

Und:

„Biometrische Erkennung im öffentlichen Raum sowie automatisierte staatliche Scoring Systeme durch KI sind europarechtlich auszuschließen.“

Das waren wichtige Versprechen. Leider zeigt sich jetzt, dass die Ampelkoalition dieses Versprechen in ihrer tatsächlichen Politik bricht. Konstantin Macher, von Digitalcourage, erklärt dazu:

Die Ampel verstößt mit ihrer Unterstützung für nachgelagerte biometrische Massenüberwachung gegen den Koalitionsvertrag.

Nachfolgend wollen wir einmal die Verhandlungen zum KI-Gesetz skizzieren, denn dadurch wird der Bruch des Koalitionsvertrags klar. Danach erklären wir anhand einer zuvor unveröffentlichten Stellungnahme der Bundesregierung, wie die Ampel ihr Versprechen gebrochen hat.

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Verhandlungen auf europäischer Ebene

Das Verbot biometrischer Massenüberwachung in der EU soll durch eine Verordnung geregelt werden: das KI-Gesetz. Der Vorschlag der europäischen Kommission vom April 2021 sieht zwar ein Verbot vor, schränkt es durch zahlreiche Ausnahmen aber viel zu stark ein, so dass damit de facto biometrische Massenüberwachung legalisiert würde. Konkret verboten werden soll nach diesem Vorschlag die

„Verwendung biometrischer Echtzeit-Fernidentifizierungssysteme in öffentlich zugänglichen Räumen“ (Art. 5, Abs. 1d).

Folgende Begriffe sind hier wichtig: Echtzeit (englisch real-time) und Fernidentifizierungssysteme (englisch remote biometric identification).

Die Begrenzung auf Echtzeitsysteme ist problematisch. Wir lehnen sie ab. Wenn nur die Echtzeitauswertung von z. B. Aufnahmen mit automatisierter Gesichtserkennung verboten wäre, bliebe ein riesiges Schlupfloch für den Missbrauch biometrischer Daten zur Massenüberwachung. Was wäre dann mit Daten, die erst nachträglich ausgewertet werden? Wie viel Zeit würde ein.e Überwachungsakteur.in verstreichen lassen, bis die automatisierte Gesichtserkennung nicht mehr als „in Echtzeit“ gilt? Vieles wäre mit der Begrenzung auf Echtzeit zulässig, zum Beispiel die biometrische Massenüberwachung aller, die sich 2017 während der Zeit des G20-Gipfels durch Hamburg bewegt haben.

Die Formulierung Fernidentifizierungssysteme ist wichtig. Sie bedeutet, dass ein System ohne direkten Kontakt gegen (mehrere) Personen eingesetzt werden kann, möglicherweise ohne deren Wissen. So ist zum Beispiel Gesichts- oder Gangarterkennung im öffentlichen Raum Fernidentifizierung. Von einer individuellen, tatverdächtigen Person Fingerabdrücke zu erheben und mit Spuren an einem Tatort zu vergleichen, fällt nicht unter Fernidentifizierung.

Es gibt weitere Ausnahmen. Zum Beispiel die, dass nur Strafverfolgungsbehörden biometrische Fernidentifizierung verboten sein soll, was ein Schlupfloch für private und privatisierte Überwachungsakteur.innen wäre. Und zu lasche Regeln in anderen Anwendungsbereichen sogenannter KI (Stichworte: biometrische Kategorisierung und Emotionserkennung). Hier haben wir uns mit unseren Forderungen immer wieder an die zuständigen Entscheider.innen gewendet, zum Beispiel mit offenen Briefen an Europaabgeordnete und an die Bundesregierung. Mit unseren Verbündeten aus verschiedenen europäischen Ländern haben wir damit schon viel erreicht.

Der Vorschlag der EU-Kommission muss zwischen dem Europäischen Parlament, in dem die von uns gewählten Europaabgeordneten sitzen, und dem Rat der Europäischen Union, in dem die zuständigen Minister.innen der Mitgliedsstaaten sitzen, verhandelt werden. Im EU-Parlament zeichnet sich eine knappe Mehrheit für eine Position ab, die unsere Forderungen aufgreift. Der Rat der EU hat dagegen am 6. Dezember 2022 für die Verhandlungen einen denkbar schlechten Vorschlag beschlossen: Er möchte die Begrenzung des Verbots auf Echtzeitsysteme und auf Strafverfolgungsbehörden beibehalten. Seitdem fragen wir und viele andere, wie das trotz des Versprechens der deutschen Bundesregierung im Koalitionsvertrag passieren konnte.

Enttäuschung durch deutsche Position

Der Rat der EU ist nach Themen strukturiert. Für das KI-Gesetz ist der Rat „Verkehr, Telekommunikation und Energie“ (Telekommunikation) zuständig. Am 6. Dezember nahm dort Volker Wissing teil, der deutsche Bundesminister für Digitales und Verkehr. Aus Begleitdokumenten zum Ratsbeschluss geht hervor, dass die Bundesregierung die Ausnahmen zur biometrischen Massenüberwachung mitträgt, dabei aber auf ein Papier vom 8. November mit der eigenen Position verweist. Wir haben mit Informationsfreiheitsgesetz-Anfragen versucht, mehr über die deutsche Position zu erfahren (siehe bei FragDenStaat und AskTheEU. Wir hatten schließlich gehofft, dass die Bundesregierung zu ihrem Versprechen stehen und sich in der EU für ein konsequentes Verbot biometrischer Massenüberwachung einsetzen würde. Das Dokument, welches wir als PDF veröffentlichen, zeigt: Leider wurden diese Hoffnungen enttäuscht.

Die Ampelkoalition macht im Rat der EU hinter verschlossenen Türen das Gegenteil von dem, was sie öffentlich versprochen hat. – Konstantin Macher, Digitalcourage e. V.

Die Bundesregierung fordert im Rat der EU, das Verbot biometrischer Massenüberwachung nur auf Echtzeitsysteme anzuwenden. Sie besteht darauf, dass biometrische Überwachungssysteme erlaubt bleiben, die erst mit zeitlicher Verzögerung angewendet werden:

„Die biometrische Fernidentifizierung in Echtzeit im öffentlichen Raum muss nach europäischem Recht ausgeschlossen werden. Eine retrograde biometrische Identifizierung, z. B. bei der Auswertung von Beweismitteln, darf jedoch europarechtlich nicht ausgeschlossen werden. Die Diskussion über das Verbot biometrischer Identifizierungssysteme in Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe d ist jedoch noch im Gange. Wir behalten uns vor, weitere Stellungnahmen abzugeben.“ (Bundesregierung, Übersetzung ins Deutsche durch Digitalcourage).

Englischer Originaltext

„Remote biometric identification in real time in public spaces must be excluded under European Law. However, retrograde biometric identification, e.g. during the evaluation of evidence, must not be excluded under European Law. However, discussions are still under way in regard to the prohibition in Article 5(1) letter (d) of biometric identification systems. We reserve the right to submit further comments.“ (Bundesregierung)

Das ist ein klarer Bruch mit dem Koalitionsvertrag, der ausnahmslos ein Verbot biometrischer Massenüberwachung vorsieht.

Mehr als eineinhalb Jahre nach Start der Verhandlungen zum KI-Gesetz in der EU und mehr als ein Jahr nach dem Koalitionsvertrag auf noch laufende Diskussionen zu verweisen, ist ein Armutszeugnis. Die Ampel hätte am 6. Dezember im Rat ihr Versprechen einlösen müssen. Stattdessen haben sie inakzeptable Ausnahmeregelungen beschlossen.“ – Konstantin Macher, Digitalcourage e. V.

Was jetzt passieren muss

Die Bundesregierung hat großen Schaden angerichtet, als sie im Rat der EU diese Verhandlungsposition unterstützt hat. Jetzt muss sie umlenken und einsehen, dass der Koalitionsvertrag keine Ausnahmen vom Verbot biometrischer Massenüberwachung vorsieht und dass sie sich auf EU-Ebene danach richten muss. Noch kann die Ampel Schadensbegrenzung betreiben.

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Positive Signale

Doch es gibt durchaus auch Lichtblicke. So forderte die Bundesregierung im Rat ein Verbot

  • der gefährlichen Emotionserkennung,
  • KI-gestützter Entscheidungen in der Justiz und
  • systematischer Überwachung von Mitarbeiter.innen an ihrem Arbeitsplatz.

Wir sind froh, dass wir hier mit unseren Forderungen durchgedrungen sind. Im Beschluss des Rats vom 6. Dezember finden sich diese Punkte allerdings noch nicht. Im Trilog, bei dem der Rat der EU mit dem Europäischen Parlament die finale Fassung des KI-Gesetzes verhandeln wird, muss die Bundesregierung also sowohl bei diesen Punkten Nachbesserungen einfordern, als auch ihre eigene Position korrigieren. Die Ampel hat jetzt eine zentrale Verantwortung dafür, ob das KI-Gesetz ein Erfolg oder ein Debakel wird.

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