Chatkontrolle

Sachverständigenanhörung im Europäischen Parlament

Der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments stellt der Chatkontrolle ein vernichtendes Urteil aus. Die EU-Kommission verschließt die Augen vor der Realität.

Im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten im Europäischen Parlament (LIBE) wurde eine neue Folgenabschätzung zur Chatkontrolle am Donnerstag, den 13. April 2023, von wissenschaftlichen Sachverständigen vorgestellt. Inhaltlich sei die Studie schon abgeschlossen, nur redaktionelle Schlussarbeiten seien noch offen. Darum stand das Dokument vorab nur den Abgeordneten bzw. den Institutionen der Europäischen Union zur Verfügung. Netzpolitik.org hat die Folgenabschätzung aber inzwischen veröffentlicht. Es stellt sich heraus: wer auch nur eine einzige Seite der Studie liest, hat der EU-Kommission schon etwas voraus. Aber eins nach dem anderen.

Kurzzusammenfassung

Die Folgenabschätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des EU-Parlaments untersucht die möglichen Auswirkungen der Chatkontrolle und bewertet sie insbesondere anhand von juristischen, technischen und praktischen Gesichtspunkten. Dabei stellt sie fest, die Chatkontrolle …:

  • … könne ihr erklärtes Ziel kaum erreichen,
  • … drohe Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu untergraben,
  • … gefährde die Europäische Cybersicherheit und
  • … gefährde europäische Grundrechte.

Insgesamt stellen die Sachverständigen dem Vorschlag der EU-Kommission ein vernichtendes Zeugnis aus. Wir finden: die einzig logische Konsequenz wäre, das Überwachungspaket mit der Chatkontrolle jetzt endlich komplett zurückzuziehen. Auch von Abgeordneten haben wir im Ausschuss diese Forderung als Reaktion auf die Präsentation gehört.

Chatkontrolle

Mit der Chatkontrolle sollen unsere Geräte gegen uns eingesetzt werden. Die EU-Kommission plant einen maßlosen Übergriff auf unsere Smartphones. Wir wehren uns gegen diesen Totalangriff auf unsere Grundrechte.

Chatkontrolle ist unverhältnismäßig und nicht zielführend

Anlass der Präsentation war, dass der LIBE-Ausschuss eine neue Folgenabschätzung beim Wissenschaftlichen Dienst des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben hat. Schon bei der Vorstellung des Gesetzespakets wurde eine Folgenabschätzung vorgelegt. Der hauseigenen Studie der EU-Kommission wollten die Abgeordneten wohl nicht trauen. Kein Wunder: Im internen Kontrollgremium der EU-Kommission, das alle Gesetzesvorschläge prüfen soll, wurde die Folgenabschätzung im ersten Anlauf komplett abgelehnt und erst im zweiten Anlauf und nur mit deutlicher Kritik an den Kommissionsplänen durchgesetzt. Die eigene Folgenabschätzung der EU-Kommission klammerte dann einfach bequem aus, welche Auswirkungen die Chatkontrolle auf IT-Sicherheit und Grundrechte hat. Auch Fragen der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit wurden von der Kommission nicht ausreichend berücksichtigt. Das stößt auf einhellige Ablehnung von allen Seiten. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages, Experten, Zivilgesellschaft und Politik haben immer wieder erklärt, dass die Chatkontrolle ein unverhältnismäßiges Überwachungspaket ist und entgegen ihrem erklärten Ziel Kinder nicht schützt.

Die Sachverständigen betonen im Ausschuss die Gefahren, welche die Chatkontrolle für die IT-Sicherheit von allen Menschen bringen würde. Praktisch würden neue Sicherheitslücken geschaffen, die nicht nur von autoritären Regimen, sondern auch von Kriminellen ausgenutzt werden könnten. Da die geplante Überwachungsinfrastruktur nur als undurchsichtige closed-source Technologie realisiert werden könnte, wäre eine demokratische und qualitative Kontrolle nicht möglich. Eine Realisierung als Open-Source-Software sei aufgrund der Zielstellung der Anwendung nicht machbar.

Sie stellen fest: Die Anzahl der Verdachtsmeldungen würde zunehmen, aber gleichzeitig auch die Fehlerrate. Sicherheitsbehörden, die eigentlich konkreten Fällen nachgehen sollen, würden mit einer großen Zahl von Falschmeldungen belastet. Während das Überwachungspaket mit der Chatkontrolle Kinder und deren Rechte schützen solle, würde der Verordnungsvorschlag auch massiv in die Rechte von Kindern eingreifen. Das wurde in der Vergangenheit u.a. auch vom Deutschen Kinderschutzbund kritisiert, da auch Kinder ein Recht auf Privatsphäre haben und das für ihre Entwicklung wichtig ist. Eine repräsentative Umfrage hatte zuletzt gezeigt, dass junge Menschen die Chatkontrolle ablehnen und sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung einschränken würde.

Die Sachverständigen verweisen auch darauf, dass eine anlasslose Massenüberwachung durch eine Chatkontrolle bei Chat-Messengern und anderen Onlinediensten das Problem an der falschen Stelle suche. Die Verbrechen finden woanders statt und würden sich nur weiter an Stellen verlagern, die von dem Überwachungspaket nicht abgedeckt werden könnten - z.B. in Onlineforen mit Zugangsbeschränkungen, in denen Täter schon jetzt sind und auf die sie dann noch stärker ausweichen würden um den Maßnahmen zu entgehen.

Auch vor dem Hintergrund europäischer Grundrechte ist die Chatkontrolle unverhältnismäßig. Die Sachverständigen im Ausschuss verweisen auf zwei Prinzipien im EU-Recht, gegen welche die Chatkontrolle verstoßen würde. Das Verbot anlassloser Vorratsdatenspeicherung und der anlasslosen Massenüberwachung. Mit den Überwachungsplänen der EU-Kommission wäre ein massiver Eingriff verbunden in die fundamentalen Rechte auf Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten. Dem gegenüber stehe, dass die Chatkontrolle ihre versprochenen Ziele nicht effektiv erreichen könnte.

Insgesamt also ein vernichtendes Urteil: die Chatkontrolle wirkt nicht, trifft die Falschen, gefährdet die IT-Sicherheit von allen und ist nicht mit unseren Grundrechten zu vereinbaren.

Dreist, dreister, Chatkontrolle

Ein Vertreter der EU-Kommission ist anwesend und darf direkt reagieren. Er sagt habe die vorgelegte Folgenabschätzung nicht gelesen aber fängt dann trotzdem an, sie inhaltlich zu kritisieren und die Chatkontrolle zu verteidigen. Diese Dreistigkeit wird noch in der gleichen Sitzung von den Europaabgeordneten Dr. Patrick Breyer (Piraten) und Moritz Körner (FDP) kritisiert.

„Es ist eine Respektlosigkeit gegenüber dem Wissenschaftlichen Dienst, gegenüber den Abgeordneten im Europäischen Parlament und gegenüber dem demokratischen Prozess, wie die EU-Kommission sämtlichen Sachverstand ignoriert und ihre eigene Ignoranz voller Selbstbewusstsein zur Schau stellt. Unfassbar.“ – kritisiert Konstantin Macher von Digitalcourage e.V.

Der Vertreter der EU-Kommission räumt ein, dass die Chatkontrolle nur mit Falscherkennungen umsetzbar wäre, sieht das aber nicht als ein Problem. Wir erinnern uns daran, dass die EU-Kommission eine 10%ige-Falscherkennugsquote in Kauf nehmen würde. In einer für uns und vermutlich auch andere Beobachter.innen unverständlichen Logik begegnet die EU-Kommission im Ausschuss der Kritik der Sachverständigen, dass die Chatkontrolle die fundamentalen Rechte aller EU-Bürger.innen gefährde, mit der Feststellung: Das hätten die europäischen Datenschutzbeauftragten ja auch schon gesagt.

Danach können die Abgeordneten Fragen stellen. Zuerst der Berichterstatter des LIBE-Ausschusses, Javier Zarzalejos (Fraktion EVP). Er kritisiert die Folgenabschätzung, weil sie keine Alternativen aufzeige. Dabei waren die Sachverständigen nicht damit beauftragt einen Gesetzesvorschlag zu machen, sondern den vorliegenden Entwurf zu bewerten.

Moritz Körner (Fraktion Renew / FDP) betont, dass die Chatkontrolle nicht nur das Durchleuchten aller Nachrichten bedeute, sondern auch Alterskontrollen für Software und Netzsperren vorsehe. Außerdem hätten die Sachverständigen gezeigt, dass die Überwachung von Nachrichten bisher nur in englischer Sprache technisch realisiert werden könnte, was das europaweite Überwachungspaket absurd mache. Er fordert nach den klaren Worten der Sachverständigen, dass EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen die Reißleine zieht und das Überwachungspaket mit der Chatkontrolle jetzt sofort stoppen müsse.

Dr. Patrick Breyer (Fraktion der Grünen / Piraten) betont, dass die Chatkontrolle unverhältnismäßig ist, Kinder nicht schützt und die Sicherheit von allen gefährdet. Er erklärt unter Bezugnahme auf die rechtliche Bewertung in der Studie, dass die vorgeschlagene Chatkontrolle später vom Europäischen Gerichtshof gekippt werden würde. Dann stünde die EU vor einem Scherbenhaufen, bei dem nichts für den Schutz von Kindern erreicht wurde.

„Die EU-Kommission will anscheinend sehenden Auges gegen die Wand rennen. Selbst wenn der EuGH später die Chatkontrolle kippt, wäre schon ein riesiger Schaden entstanden. Autoritäre Regime in der ganzen Welt würden das europäische Überwachungspaket als Vorwand und Rechtfertigung für ihre eigenen Pläne zur Kontrolle der Bevölkerung nutzen. Und aus den Erfahrungen der Vergangenheit wissen wir: Ist eine solche Infrastruktur einmal verabschiedet, werden Überwachungspolitiker.innen immer wieder versuchen, sie durchzusetzen, egal was Gerichte sagen.“ – warnt Konstantin Macher von Digitalcourage e.V.

Unterstützen Sie die gute Sache: Freiheit, Grundrechte und Demokratie.

Viele Menschen engagieren sich bei uns in ihrer Freizeit, seien auch Sie dabei!

Bleiben Sie auf dem Laufenden über unsere Arbeit und unsere Themen.