Vorratsdatenspeicherung: Bundestag beschließt Überwachungsstaat
Der Bundestag hat am Freitag, 16. Oktober 2015 mit den Stimmen von SPD und CDU die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Diese wurde bereits 2010 durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. 2014 hat außerdem der Europäische Gerichtshof die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung als nicht vereinbar mit der EU-Grundrechte-Charta verworfen und im September 2015 hat die EU-Kommission den Entwurf wegen unverhältnismäßiger Eingriffe in Grundrechte scharf kritisiert.
Bundestag ignoriert Protest
Mit dem neuen Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung setzt sich die Koalition über den breiten Protest von Organisationen und Verbänden aus der Zivilgesellschaft hinweg. Kritisiert haben die Vorratsdatenspeicherung unter anderem: Amnesty International Deutschland, der deutsche Presserat, der Deutsche Journalisten-Verband und der evangelische Kirchentag.
Anlasslose Datenerfassung: Eingriff ins Privatleben
Mit der neuen Vorratsdatenspeicherung sollen die Telefon- und Internetverbindungen aller Bürger.innen für zehn Wochen gespeichert werden. Darüber hinaus soll der Aufenthaltsort von Mobiltelefonen für vier Wochen erfasst werden. Die Inhalte von SMS werden mit erfasst. Aus diesen Daten sind Rückschlüsse auf direkte und indirekte soziale Kontakte möglich. Beispielsweise kann die besonders geschützte Religionszugehörigkeit ermittelt werden, wenn Telefone in Gemeindezentren oder anderen religösen Einrichtungen geortet werden. Anrufe bei bestimmten Fachärzt.innen ermöglichen Vermutungen und Rückschlüsse über Erkrankungen, Schwangerschaften oder Therapien. Vorratsdaten ermöglichen das Erstellen und Auswerten von kompletten Bewegungsprofilen.
5-Minuten-Info: Vorratsdatenspeicherung
Persönliche Freiheiten eingeschränkt
Aufgrund der Überwachung der Kommunikation durch die Vorratsdatenspeicherung ändern Menschen im Zweifel ihr Verhalten, indem sie auf den Kontakt zu bestimmten Personen verzichten oder bestimmte Orte meiden. Das ist ein vollkommen inakzeptabler Einschnitt in demokratische Freiheits- und Persönlichkeitsrechte.
Gefährliche Lücke im Gesetz
Private Daten sollen nur mit Genehmigung eines Richters abgerufen werden können. Aber eine Lücke im Gesetzentwurf erlaubt die Abfrage von Daten über eine sogenannte „Bestandsdatenauskunft“. Dazu ist kein richterlicher Beschluss notwendig. Mit diesem Instrument können Polizei und Verfassungsschutz ohne richterliche Kontrolle potentiell die Daten aller Bürgerinen und Bürger abrufen.
Anwält.innen und Ärzt.innen nicht geschützt
Vorratsdatenspeicherung ist generell inakzeptabel. Eklatant gefährlich ist sie für „Berufsgeheimnisträger“ wie Anwält.innen und Ärzt.innen. Deren sensible Daten über Kontakt zu Patient.innen, Informant.inen und Mandant.innen werden ebenfalls erfasst und sollen nur vor dem Abruf geschützt werden. Wie dieser „Schutz“ gewährleistet werden soll und welche Sanktionen beim illegalen Abruf drohen, klärt das neue Gesetz nicht.
Quellen von Journalist.innen gefährdet
Das neue Gesetz will Journalist.innen als Geheimnistragende besonders schützen. Allerdings ist allein die Auszeichnung des Berufs problematisch, denn „Journalist.in“ ist in Deutschland kein geschützter Beruf – die Zuordnung entsprechend vage. Sind beispielsweise die Betreiber.innen von netzpolitik.org Journalist.innen oder „lediglich“ Blogger? Wer entscheidet über diese Frage? Auch das klärt das Gesetz nicht.
Durch diese Rechtsunsicherheit für Journalist.innen ist der Quellenschutz gefährdet: Die Verbindungsdaten lassen Rückschlüsse auf Informant.innen zu, was die Arbeit von Journalist.innen erheblich erschwert. Das ist ein Angriff gegen sogenannte Whistleblower.innen, die die Öffentlichkeit anonym über Misstände und informieren wollen.
Straftatbestand „Datenhehlerei“ – nutzlos und gefährlich
Das neue Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung enthält den Straftatbestand der „Datenhehlerei“. Damit wird das Verbreiten von Informationen unter Strafe gestellt, die von anderen rechtswidrig erlangt wurden. Das Gesetz ist so formuliert, dass Journalist.innen zwar auf den ersten Blick nicht betroffen sind. Schaut man sich den Text jedoch genauer an, ergibt sich , dass insbesondere der Umgang mit Whistleblower.innen strafrechtlich relevant werden kann. Auch in der Landesverrats-Affäre um netzpolitik.org hätte dieser Paragraph zur Anwendung kommen können.
Formaljuristische Tricksereien
Die Regierung behauptet, bei dem Gesetz zu „Mindestspeicherpflicht und Höchstspeicherdauer für Verkehrsdaten“ vieles verändert zu haben, im Vergleich zum verfassungswidrigen Gesetz von 2007. Die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts wurden allerdings nicht in ihrem eigentlichen Sinn berücksichtigt, sondern auf formaljuristische Art uminterpretiert. Zudem beachtet der Gesetzentwurf die Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur EU-Richtlinie, die gegen die EU-Grundrechtscharta verstieß, nicht.
Das Bundesverfassungsgericht mahnt beispielsweise an, dass nicht alle Kommunikation überwacht werden dürfe. Es begründet dies mit Berufsgruppen, die als Geheimnisträger auf anonyme Kommunikation angewiesen sind. Der derzeitige Gesetzesentwurf behauptet, dem Genüge zu tun, indem er Kommunikation wie E-Mail und Facebook von der Überwachung ausschließt. Damit kann formaljuristisch behauptet werden, dass nicht alle Kommunikation überwacht wird. Mit dem ursprünglichen Hinweis des Bundesverfassungsgerichts hat dies allerdings nichts mehr zu tun. Auf diese Weise wurden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts wiederholt „fehlinterpretiert“.
Kein Nutzen gegen schwere Kriminalität
Kosten der Vorratsdatenspeicherung
Darüber hinaus entstehen für die Wirtschaft enorme Kosten. Laut Bundesnetzagentur sollen sich diese auf um die 260 Millionen Euro belaufen, der Branchenverband Eco schätzt sie sogar auf 600 Millionen Euro. Die Kosten für Unternehmen mit bis zu 1000 Kunden werden auf mindestens 100.000 Euro geschätzt. Kleine und mittelständige Unternehmen werden durch diese Kosten überfordert. Langfristig werden die Kosten für die Überwachung auf die Kund.innen umgelegt.
Überwachungsgesamtrechnung
Das Bundesverfassungsgericht mahnte in seinem Urteil von 2010 an, dass sich die Menschen nicht überwacht fühlen dürfen. Daher müsse die Bewertung der Vorratsdatenspeicherung auch vor dem Hintergrund der Gesamtheit an bestehenden Überwachungsmasnahmen geschehen. Diese Überwachungsgesamtrechnung fällt seit den Enthüllungen von Edward Snowden deutlich besorgniserregender aus. Das ist ein Grund, staatliche Überwachung zu reduzieren und den Schutz der Privatheit zu erhöhen. Das für eine Demokratie erträgliche Maß an Überwachungsmaßnahmen ist längst überschritten.
Wir klagen gegen die Vorratsdatenspeicherung
Weiterführende Links
- Digitalcourage: Vorratsdatenspeicherung: Zivilgesellschaft sagt Nein!
- 5-Minuten-Info: Vorratsdatenspeicherung
- Digitalcourage: Grundsätzliches zur Vorratsdatenspeicherung
- Rechtsanwalt M. Starostik (Berlin) zum Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung: “Die Anforderungen des EUGH im Urteil vom 8. April 2014 sind eindeutig nicht erfüllt”
- Digitalourage: Vorratsdatenspeicherung wegen EU-Kritik verzögert
- Digitalcourage: Überwachungsgesamtrechnung
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Autor.innen: Max Maass und Helke Höpfner aus der AG Text sowie Leena Simon und Friedemann Ebelt
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